Der Meerkönig. Balduin MöllhausenЧитать онлайн книгу.
etwa hundert Schritte weiter abwärts der eben von einer langsamen Rundfahrt zurückgekehrte Wagen sie erwartete; »ja, etwas Aehnliches - das Ganze kam indessen auf eine Entschuldigung heraus - ja, sich so etwas vorzustellen: mitten in der Nacht und ganz allein auf offener Straße, und dabei friert es, daß die Sterne vom Himmel fallen möchten; aber Sie haben noch junges, warmes, Blut, und da schadet Ihnen der nächtliche Spaziergang nicht, im Gegentheil, Sie werden doppelt gut darnach schlafen, und außerdem dürfen Sie sich sagen, daß Sie zwei arme, leidende Menschenseelen beglückt haben, was besser ist, als eine Gesellschaft bei der stolzen Gräfin Clotilde.«
»Wofür die leidenden Menschenseelen allein dem Doctor Bergmann zu Dank verpflichtet sind,« fügte die Gräfin mit unverkennbarer Herzlichkeit hinzu; »aber, lieber Herr Doctor, ich habe jetzt wirklich von dem Spaziergange genug und möchte gern meinen Wagen benutzen.«
»Wagen?« fragte der Doctor, überrascht, indem er stehen blieb und sich verwundert umschaute, denn er hatte nicht bemerkt, daß sie dicht an dem den Wagenschlag offen haltenden Diener vorübergeschritten waren und die Equipage sich bereits, ihnen folgend, in Bewegung gesetzt hatte.
»Ja, den Wagen, Herr Doctor,« wiederholte Renate, gegen ein schalkhaftes Lachen ankämpfend.
»Richtig, da ist er ja; Tausend Welt, den muß ich wahrhaftig übersehen haben!«
»Ohne Zweifel,« bekräftigte Renate; dann aber sich dem Doctor zuneigend, flüsterte sie: »Sehen Sie den Mann dort? Mir war, als folgte er uns bereits in der letzten Straße, und jetzt steht er still.«
»Lassen Sie ihn nur stehen, mein liebes Kind,« versetzte der Doctor, indem er seinem Liebling in den Wagen half, »der thut Ihnen nichts und mir nichts, ich kenne ihn genau; er war beauftragt, uns zu folgen, denn dahin, wo wir heute Abend gewesen sind, geht man nicht, ohne wenigstens einen Freund in der Nähe zu wissen.«
»Aber um Gottes willen, wer ist es denn? Sie begreifen, lieber Herr Doctor, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer meine Handlungen überwacht.«
»Ruhig, ruhig, meine gute Renate, der dort ist sicher und verschwiegen, und wenn Sie es durchaus wissen wollen: es ist mein Neffe, der sich auf Urlaub hier befindet.«
»Doch nicht der Heinrich?«
»Ganz richtig, mein Heinrich, der bei der Artillerie steht.«
»Und den haben Sie mir noch nicht zugeführt? Es muß wenigstens acht Jahre her sein, seit ich ihn nicht sah; er war damals Fähnrich.«
»Ist hier was zuzuführen; aber wollen Sie den Jungen wiedersehen, so wird er Ihnen nächstens seine Aufwartung machen.«
»Nun, Sie fahren nicht mit?« fragte die Gräfin, als der Doctor einen Schritt zurücktrat und den Diener bedeutete, den Kutschenschlag zu schließen.
»Nein, meine theure Renate; ich habe von hier aus nicht weit bis zu meiner Wohnung; außerdem muß ich mich auch um den Jungen kümmern, den ich, als ich zu Ihnen eilte, im Vorbeigehen aus dem Casino herausholte und mit kurzen Worten auf seinen Posten schickte. Also auf Wiedersehen morgen im Laufe des Tages!«
Die Gräfin reichte ihre Hand hinaus; offenbar wollte sie noch etwas sagen, allein der Wagen hatte sich auf des Doctors Ruf: »Vorwärts, nach Hause!« schon in Bewegung gesetzt.
»Braves, liebes Mädchen; gerade wie ihre Mutter,« sprach der Doctor laut vor sich hin, indem er dem Wagen mit hastigen Schritten nachfolgte.
»Unstreitig das beste Mädchen von der Welt, oder der Herr Doctor würden den steifgefrorenen Neffen darüber nicht ganz vergessen haben,« ertönte plötzlich eine heitere Männerstimme an seiner Seite, und zugleich schob sich ein Arm mit zutraulichem Wesen unter den seinigen.
»Tausend Welt, Junge, hatte Dich wahrhaftig vergessen!« fuhr der Doctor erfreut auf, ohne indessen seine Eile zu mäßigen. »Hast Deine Sache übrigens gut gemacht, ganz gut gemacht, bin sehr zufrieden mit Dir. Hm, nur etwas weiter zurück hättest Du bleiben müssen; sie hat Dich entdeckt und aus Anhänglichkeit an mich den Wunsch ausgesprochen, Dich in ihrem Hause zusehen; mußt also schlechterdings zu ihr.«
»Und warum sollte ich auch nicht?« fragte der Officier lachend.
»Das will ich Dir sagen: erstens liebe ich es nicht, meinen Herrn Neffen auf das Privilegium seiner Uniform hin in hochadelige Häuser einzuschmuggeln, und zweitens widerstrebt es meinem Gefühle, mir gestehen zu müssen, daß man meinem Herrn Neffen aus Anhänglichkeit an mich allerlei Höflichkeiten erweist.«
»Tausend Welt, lieber Onkel,« erwiderte der Lieutenant scherzend in des alten Herrn Weise, »vielleicht bewirke ich, daß, nachdem ich aus Anhänglichkeit an Dich zum ersten Male eingeladen wurde, man die Bekanntschaft mit mir meiner höchsteigenen Person wegen fortsetzt; schmeichele ich mir doch, eine stattliche Figur zu spielen, und da ich so sehr viel von meinem Onkel haben soll, kann ich unmöglich ganz einfältig sein.«
»Schlau genug bist Du,« grollte der Doctor wohlwollend, »verstehst Dich wenigstens vortrefflich darauf, Deinem alten Onkel die schwachen Seiten abzulauschen.«
Der Neffe lachte, der Onkel lachte, und dann plauderten sie wieder so lustig mit einander, als ob sie ein paar muthwillige Schulkameraden gewesen wären, die, nachdem sie sich etwas zu lange auf der Straße herumgetrieben, mit erheuchelter Furcht der sie zu Hause erwartenden Strafpredigten gedachten.
Ja, ja, die Frau Doctorin war eine liebe, gute Dame, aber auf Ordnung hielt sie streng, und nicht eher suchte sie die nächtliche Ruhe, als bis sie sich von dem glücklichen Eintreffen ihres Herrn Gemahls überzeugt hatte.
9. Der Handel.
Vierzehn Tage waren verstrichen, vierzehn schöne, kurze Wintertage, ohne daß auch nur ein Wölkchen während der ganzen Zeit den Himmel getrübt hätte. Heller, klarer Sonnenschein wechselte regelmäßig mit mildem Mondlichte und geheimnißvollem Sternengefunkel ab; aber trotz Sonnenscheins und lieblicher Himmelsbläue schlummerte die Natur unter ihrer schweren, weißen Schneedecke so fest, als ob sie nie wieder habe erwachen wollen.
Auch bei den Menschen hatten die gewöhnlichen Wechsel stattgefunden. Hier war Jemand gestorben; dort hatte ein junger Weltbürger zum ersten Male das Tageslicht erblickt; Herr Seim hatte mit Thränen der tiefsten Rührung in den Augenwinkeln die Weihnachtsgaben von den frommen Gönnerinnen seiner Anstalt in Empfang genommen, hatte in einem ergreifenden Artikel in den verbreiterten Zeitungen die Freude seiner beglücken Lieblinge geschildert und im Uebermaße von Dankbarkeit sich sogar einzelne Andeutungen, wie: »Frau Geheime Commissionsräthin X. nebst Tochter,« »Frau Gräfin C ...,« erlaubt; mehrere Bälle waren in den vornehmsten Häusern der Stadt gegeben worden, und tausend andere derartige wichtige Ereignisse und Begebenheiten, die gerade fällig, hatten die gewohnten und gewöhnlichen Wechsel in dem alltäglichen Leben bewirkt.
Aber auch von manchem ungewöhnlichen Wechsel der Dinge wäre zu erzählen gewesen, wenn man sich nur die Mühe gegeben hätte, danach zu forschen; von Veränderungen und Verwandlungen, so groß und merkwürdig, daß man beim Anblicke derselben seinen eigenen Augen kaum traute und sich verwundert fragte, wie es denn eigentlich möglich sei.
Eine derartige gründliche Umwandlung machte sich indessen nirgends in höherem Grade bemerklich, als in der kleinen Hofwohnung des verrufenen Hauses, welche Doctor Bergmann und Renate vierzehn Tage früher als eine Entsetzen erregende Höhle kennen gelernt hatten.
Die Wände waren freilich noch die alten und nichts weniger, als in baulichem Zustande, eben so der Fußboden und der kleine Feuerherd; allein eine ganz andere Atmosphäre herrschte in dem Gemache, eine Atmosphäre, von der man kaum zu entscheiden wagte, ob sie von dem regelmäßigen Durchlüften und künstlichen Erwärmen herrühre, oder von der übrigen Einrichtung, die, obwohl sehr einfach, doch der Räumlichkeit einen gewissen Charakter des Wohnlichen verlieh.
In dem Winkel, der als der am mindesten feuchte erkannt worden war, stand ein sauberes Bett, und neben diesem ein kleineres, beide mit Matratzen, Kopfpfühlen und Decken zur Genüge versehen.
Ein Tisch, eine Commode, ein