Der Gärtner war der Mörder. Wolfgang SchneiderЧитать онлайн книгу.
der Kriminalpolizei.“ Sedlmeyer war bereit für die übliche Reaktion. Die ließ erwarten, dass sich eine unsichtbare Wand zwischen ihn und seinen jeweiligen Gesprächspartner schieben würde, ein Schutzschild des schlechten Gewissens, das jeder mit sich herumtrug. Es war ihm oft genug passiert, dass anfangs lockerer Smalltalk rapide in Reserviertheit umschlug, sobald er mit der Wahrheit herausrückte, was seinen Beruf betraf. Er hatte sich daran gewöhnt und diesem Umstand auch schon manch spaßige Erheiterung abgewinnen können. Doch hier geschah nichts dergleichen; sein Gesprächspartner schien nicht übermäßig geschockt zu sein. Das mochte vielleicht auch an der Tatsache liegen, dass er schon ordentlich gebechert hatte. Stattdessen sagte er:
„Oha! Im Ernst?“ Sedlmeyer nickte. Daraufhin beugte sich der Rotnasige verschwörerisch zu ihm herüber und sagte, in angetrunken-fahrigem Ton:
„Du, weißt was! Das Mädel, das da verschwunden ist vor drei Wochen! Soll ich dir was sagen? Ich kenn einen, ein Spezi von mir, der weiß, wer das war!“ Das wurde Sedlmeyer dann doch zu viel. Er hatte sich lange genug Räuberpistolen erzählen lassen, von den Scorpions und der Königin von England und jetzt noch das. Er würde sich hier nicht verarschen und als Adressat für das Geltungsbedürfnis seines Kneipen-Nachbarn instrumentalisieren lassen. Zudem war der Rotnasige leicht als Wichtigtuer zu durchschauen und Sedlmeyer kannte den Typus gut. Genervt trank er seinen letzten Schluck Bier aus und sagte:
„Alles klar. Aber ich bin leider gerade nicht im Dienst. Dieser Spezi soll sich morgen sofort bei der Kripo melden, ansonsten drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft wegen Begünstigung einer Straftat. Jeder, der Beweise hat und sie zurück hält, riskiert eine saftige Strafe und zwar im Knast. Ohne Bewährung. Klar soweit?“ Dabei sah er dem Rotnasigen eindringlich in die Augen. Der sah ihn eingeschüchtert und mit glasigem Blick an, ohne etwas zu erwidern. Sedlmeyer stand auf und verließ augenblicklich das Lokal. Mies gelaunt schloss er sein Fahrrad auf. Diesen Kneipenbesuch hätte er sich genau so gut sparen können. Die Musik war dürftig und das Gespräch mit dem mitteilungsbedürftigen Sitznachbarn ein Monolog ohne viel Inhalt gewesen. Missmutig radelte er nach Hause, Richtung Westend. Nach zwanzig Minuten war er angekommen, in der Kazmairstr. wo seine kleine Wohnung lag. Er schob sein Fahrrad in den Hinterhof und sperrte es an, dann ging er hinauf in den zweiten Stock und schloss seine Wohnungstür auf.
Noch immer war er genervt. Er hängte seine Jacke auf, setzte sich auf den Balkon und begann, sich eine Schwarzer Krauser zu drehen. Wie eine Zecke, die sich festgebissen hatte, beschäftigte ihn ein Gedanke und lies ihn nicht mehr los: hätte er den Hinweis des Rotnasigen vielleicht doch ernst nehmen sollen? Streng genommen war es nichtmal sein Fall: Kollege Jakubinski mit seiner Soko Laura war für das vermisste Mädchen zuständig, er hatte damit eigentlich überhaupt nichts zu tun. Allerdings war das natürlich kein Argument: falls er als Kriminalbeamter einem Hinweis auf die Spur kam, der einen anderen Fall betraf, würde er ihm selbstverständlich immer nachgehen. Aber was hätte er an dieser Stelle machen sollen? Ein offenkundig betrunkener Wichtigtuer erzählt Märchengeschichten in der Kneipe herum, eine absurder als die andere. Hätte er ihn sofort verhaften sollen? War nicht Jakubinski ohnehin schon kurz vor dem Durchbruch, was den Fall anbelangte? Sedlmeyer meinte sich zu erinnern, dass kürzlich eine Zeugin aufgetrieben worden war, die das entführte Mädchen in einem Geschäft erkannt hatte... Er versuchte sich selbst zu bekräftigen, so gut es ging und mit soliden Argumenten die Richtigkeit seines Verhaltens zu untermauern. Es war schon seltsam, wie der Verstand arbeitete: da gibt es eine Unsicherheit, ein gefühltes Unbehagen und schon läuft sie auf Hochtouren, die Maschine im Gehirn, die die passenden Ausreden dazu erfindet. Nach einer Weile war sich Sedlmeyer sicher, richtig geurteilt zu haben: der Rotnasige war definitiv ein Schwätzer gewesen mit einem ausnehmenden Geltungsbedürfnis, hatte ordentlich gebechert und offenbar wenig Ahnung, wovon er redete. Zudem schien er nicht wirklich Dreck am Stecken zu haben, sonst wäre er bei der Erwähnung von Sedlmeyers Beruf sofort in die Reserve gegangen. Und das wiederum hieß, dass er wohl auch keine Befürchtungen haben würde, der Polizei etwas zu melden, falls er wirklich etwas wusste – was ja zudem auch seinem offensichtlichen Durst nach Anerkennung dienlich gewesen wäre. Also Entwarnung, es war alles korrekt abgelaufen. Sedlmeyers Laune besserte sich und er beschloss, endlich das zu tun, worauf er sich schon den ganzen Tag so gefreut hatte. Er ging ins Wohnzimmer, holte die erste von zwei CDs aus der Hülle, schaltete die Stereoanlage an und legte sie in den CD-Player. Dann nahm er den Kopfhörer und die Fernbedienung mit auf den Balkon und setzte sich. Nachdem er den Kopfhörer aufgesetzt hatte, startete er den ersten Song, eine zufällig aufgezeichnete Jamsession mit Pantera-Gitarrist Diamond Darrell und Kerry King von Slayer. Ein großartiges Stück Musik. Und das beste war: er hatte noch beide CDs vor sich und konnte morgen ausschlafen.
Zuhause
Sonntag, 8. Juni 2008, 8:15
Sedlmeyer riss die Augen auf. Verschlafen und verwirrt. Was passierte gerade? Warum war er aufgewacht, statt ordnungsgemäß auszuschlafen, wie geplant? Schließlich hatte er gestern abend bis halb drei Uhr morgens genussvoll Musik gehört, beide CDs seiner Pantera-Rarität und die eine davon immerhin zweimal am Stück. Das Telefon läutete. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und starrte ein paar Sekunden lang die Wand an. Dann wälzte er sich aus dem Bett, stand auf und ging in den Flur, wo das Telefon wütete. Er setzte sich auf die Holzkiste, die er einmal in einem Laden für antike Bauernmöbel erstanden hatte und die zugleich als Sitzgelegenheit und Aufbewahrungsort für selten bis nie gebrauchte Gegenstände diente, wie beispielsweise Skischuhe oder einen Satz Hanteln, den er sich vor einiger Zeit im guten Glauben an die eigene Trainingsmoral gekauft hatte. Er nahm den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung war seine Kollegin Jutta Hemmers:
„Mojn Sedi, hab ich dich geweckt?“ Sedlmeyer gähnte, dann sagte er:
„Nein, ich sitze schon seit zwei Stunden neben dem Telefon und warte auf deinen Anruf.“
„Sedi, du müsstest bitte sofort ins Präsidium kommen, ich warte da auf dich, es gibt Arbeit.“ Er war noch immer nicht richtig wach und sein noch teilweise schlafendes Gehirn sah sich einem akut schwer lösbaren Konflikt gegenüber: Sonntag früh? Ausschlafen? Präsidium? Arbeit? Er fragte:
„Moment mal. Was ist denn los?“ Jutta fasste zusammen:
„Also, folgendes: wir haben ne weibliche Leiche im Teenager-Alter, irgendwo bei Freimann, lag in der Isar. Es ist davon auszugehen, dass es sich um das entführte Mädchen handelt.“ Sedlmeyer war immer noch nicht klar, was hier eigentlich gespielt wurde:
„Aha. Aber was haben wir damit zu tun? Das ist doch Jakubinski's Fall!“
„Jetzt ist es offenbar unserer. Sedi, ich erklär's dir auf der Fahrt. Bitte komm erst mal ins Präsidium. Bis gleich, Tschöö!“
Sedlmeyer gähnte noch einmal und rieb sich die Augen, dann ging er ins Bad und begann, sich die Zähne zu putzen. Was war da los? Warum rief ihn Jutta an, um ihm zu eröffnen, dass sie Jakubinski's Fall geerbt hatten? Und warum überhaupt hatten sie ihn geerbt? Er ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an, um sie vorzuwärmen, dann zog er sich an. Frisch bekleidet mit schwarzer Jeans und hellblauem Hemd, unter das er ein schon etwas betagtes Motörhead T-Shirt angezogen hatte, legte er eine Kaffeepatrone ein, stellte eine Tasse unter und drückte auf einen Knopf. Er musste unwillkürlich an die klischeehaften Cops aus amerikanischen Kriminalfilmen denken, die ständig mit Kaffeetassen in der Hand herumliefen und ohne diese keinen Tatort besichtigen und keinen Bericht verfassen konnten, letzteres in der Regel auf altertümlichen mechanischen Schreibmaschinen. Im Gegensatz zu amerikanischen Film-Polizisten, die scheinbar jeden Meter mit voluminösen spritfressenden Autos zurücklegten, würde er gleich mit dem Fahrrad ins Präsidium fahren. Er besaß privat kein Auto, da dies in einer Großstadt wie München wenig Sinn machte und ihm für berufliche Zwecke ein Dienstwagen zur Verfügung stand, der allerdings im Moment auf dem Parkplatz im Präsidium wartete. Nachdem er den Kaffee ausgetrunken hatte, suchte er seine sieben Sachen zusammen und stellte genervt fest, dass sein Handy leer war. Er nahm es trotzdem mit, zusammen mit dem Ladegerät. Dann ging er hinunter in den Hinterhof, zu seinem Fahrrad und schloss es auf.
Zwanzig Minuten später bog er auf den Parkplatz