Cynthia Silbersporn. Fred KellerЧитать онлайн книгу.
fremd, wie er erklärte, aber dafür gab es ja schließlich seine langjährige Bekannte Cynthia. Des Öfteren stand sie mit Rat und Tat an seiner Seite.
Schon beim Anblick des dicken, in Leder gebundenen Buches hatte sie die Energie gespürt, die in ihm steckte und nach außen drängen wollte. Der Text offenbarte sich sogleich beim Aufschlagen. Natürlich hätte sie es übersetzen können, fand es aber unnötig, denn das Werk war direkt nach Fertigstellung mit einem magischen Bann belegt worden. Dieser bewirkte, dass die Inkunabel von Menschen mit der erforderlichen geistigen Reife auch im Original gelesen werden konnte. Allerdings wurde Cynthia, seit das Buch in ihr Haus gelangt war, von dem Gefühl verfolgt, beobachtet zu werden. Bohrten sich die Augen der Personen aus den wenigen aufgehängten Bildern in ihren breiten Rücken? Sie ertappte sich dabei, wie sie bei jedem Knacken der alten Holzbalken zusammenzuckte und einen Blick über die Schulter warf.
Der Kupferkessel baumelte an einem schwenkbaren Haken. In ihm blubberte, dampfte und zischte es. Die Flammen leckten an den Seiten empor, weshalb er mit dunklen Rußspuren überzogen war.
Seit dem frühen Morgen stand Cynthia in der Küche, die dunklen Haare als Knoten hochgesteckt, einen Schweißfilm auf der Stirn, und die müden Beine drohten mit Wadenkrämpfen. Bald würde das Gebräu fertig sein, nur noch wenige Zutaten fehlten zu seiner Vollendung. Jetzt mussten die Angaben genauestens befolgt werden.
Eine Messerspitze getrockneter Fliegenpilz, dreimal rechtsherumrühren. Sieben Beeren der Tollkirsche zu Brei gemörsert, viermal linksherumrühren.
Nun benötigte sie nur noch drei Zutaten. Keiner konnte sie aufhalten, das Elixier fertigzustellen. Das Rezept versprach nichts Geringeres als die Unsterblichkeit.
Als nächstes wurden sechs Samen des Wunderbaums pulverisiert und in den Kessel gegeben. Vier, fünf, sechs. Cynthia hielt die Dose noch waagrecht über den Steintopf, in dem die Samen zerstoßen werden sollten, als lautstark die ersten vier Takte von Beethovens Fünfter durch das Haus schallten.
Sie zuckte dermaßen zusammen, dass unzählige Samen aus der Dose fielen. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, diesen Klingelton durch einen harmonischeren zu ersetzen. Das musste auf der To-do-Liste ganz nach oben. Zum Glück hielt sie die Hand über den Mörser. Kaum auszudenken, wenn sie von vorne hätte beginnen müssen.
Konnte der Kessel bei kleiner Flamme über dem Feuer bleiben? Dazu fand sie keine Angabe im Rezept, nur was reinmusste und wie oft man in welche Richtung umrühren sollte.
Da da da daaa.
Okay, wer immer da draußen stehen würde und den Klingelknopf malträtierte, sollte einen guten Grund haben.
Bevor sie zur Tür marschierte, griff Cynthia nach ihrer kleinen japanischen Freundin, die immer in Reichweite lag. Eine zusammenklappbare Handsäge, die eigentlich Pocketgirl hieß, Cynthia aber Fushigi nannte. Das gefiel ihr besser und hörte sich persönlicher an. Es bedeutete »Wunder«, und es war wirklich wunderbar, was diese Säge alles leistete. Vom Verkäufer empfohlen für Äste und dünne Stämme, aber, wie sie herausgefunden hatte, auch durchaus für andere Gelegenheiten, die im Haushalt anfielen, geeignet.
Sie riss die Tür auf und sah den ausgestreckten Zeigefinger direkt vor der Klingel in der Luft schweben. Der Mann hinter dem Zeigefinger erstarrte aufgrund ihres plötzlichen Erscheinens und wirkte irritiert. Vermutlich glaubte er, sie hätte sich direkt hinter der Tür materialisiert. Wär schön, wenn sie das könnte.
»Stopp!«, herrschte sie ihn an. »Nur weil Beethoven programmiert ist, bin ich noch lange nicht taub.«
»Hätten Gnädigste wohl ein paar Minuten Zeit, um mit mir über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu reden?«, gab der ungebetene Störer seinen sichtlich auswendig gelernten Satz leise von sich.
Wichtiger als mein Kupferkessel?, überlegte Cynthia.
Der Magier Marius Maca hatte einmal einem aufdringlichen Sektenanhänger die »Gespräche mit Gott«-Bücher empfohlen, was diesen zur augenblicklichen Flucht veranlasste, um seine festzementierte Glaubensanschauung nicht mit neuen Ideen ins Wanken zu bringen. Aber eine solche Schlagfertigkeit brauchte Cynthia heute nicht einzusetzen. Für Leute, die andere beim Ausprobieren neuer Rezepte unterbrachen, gab es ein besonderes Programm.
Ein listiges Grinsen zog ihr die Mundwinkel nach oben. Es kam ihr vor, als bemächtigte sich ihrer ein fremder Geist, der mit diesem Vertreter des Hauskreises etwas Besonderes plante. Lag es an dem Buch, von dem sie langsam ahnte, was es alles beinhaltete? Freundlich bat Cynthia Silbersporn den Besucher in die vordere Küche.
Die hintere, in der der schöne Kessel hing, hatten bis jetzt nur wenige betreten, und noch weniger auf eigenen Beinen verlassen.
Wie Cynthia annahm, wurde dem zerknitterten Herrn nur selten ein Tee angeboten, weshalb er die Einladung freudig annahm. Ein Earl Grey wurde kredenzt.
Mit seinem kräftigen Bergamottöl und dem herben Geschmack war »Der Graue Graf«, so nannte sie diese Sorte allzu gern in der deutschen Übersetzung, hervorragend geeignet, die Bitterkeit gewisser ziemlich ungesunder Kräuter zu überdecken.
Den Gast im Rücken, schenkte sie zwei Tassen ein. Eine erhielt einen Spritzer aus einem braunen Fläschchen, das sie vom Gewürzregal nahm, und dann noch einen. Sicher war sicher. Wieder befiel sie das Gefühl fremder Augen, die sie über die Schulter hinweg beobachteten.
Cynthia Silbersporn ging freundlich lächelnd an den Tisch, stellte die beiden Trinkgefäße ab und nahm Platz. Ja, sie konnte richtig nett sein oder zumindest so tun als ob.
Freudig erregt holte der Mann Luft und fragte: »Sie sind doch bestimmt sehr einsam hier, oder?«
Es sollte eine seiner letzten Fragen sein.
»Ich bin nicht einsam. Ich bin nur alleine mit meiner Katze, und das ist auch gut so.«
Bevor das Palaver ins Unendliche ausufern würde, musste Cynthia die Gesprächsführung, beziehungsweise dessen Beendigung, übernehmen. So wie ein starker Magnet Metall anzieht, glaubte sie fast, den Kessel rufen zu hören. Langsam zog sie die Luft ein, atmete tief durch, doch die Ungeduld wuchs.
»Ich bin hierher gezogen, um meine Ruhe zu haben. Das mag vielleicht schwer nachvollziehbar sein, aber es gibt Menschen, die sind lieber alleine als mit den falschen Individuen zusammen.«
Sie hob die Teetasse und prostete ihrem Gegenüber zu, das noch keinen Schluck getrunken hatte. Manchmal genoss sie sogar den Spaß an der langsamen Folter, aber heute musste es schnell gehen. Das Experiment kochte hinten unbeobachtet weiter.
»Was ist nur los mit mir? Was tue ich?« Fragen rasten durch ihren Kopf. »Bringt die Gier nach Unsterblichkeit mich soweit?«
Der Herr folgte freundlich ihrer Aufforderung. Er nahm einen kräftigen Mund voll, öffnete ihn, um mit dem nächsten Satz fortzufahren.
Dazu fehlte ihm jede Möglichkeit. Er alterte innerhalb weniger Minuten und sackte tot auf seinem Stuhl zusammen. Er schwieg für alle Zeiten.
Die Idee, ihn mit Fushigis Hilfe in handliche Stücke zu zerteilen, nahm Gestalt an. So würde sie problemloser die Leiche entsorgen können.
»Hoffentlich ist noch genug Saft im Akku«, murmelte sie vor sich hin, »meist geben die ja nach der Hälfte der zu erledigenden Arbeit den Geist auf. Ach was, vergiss es. Zu viel Arbeit für so ein kleines Gerät.«
Cynthia ließ den Vertreter sitzen. Er stellte keine Störung mehr dar. Sie konnte endlich den neuesten Zaubertrank fertigstellen und in die kleinen braunen Fläschchen füllen. Der Geschmack war wie beschrieben, hinterließ jedoch eine Schalheit nach faulen Eiern. Ob er wirklich unsterblich machte, wer konnte es beurteilen? Am Ende des Rezepts stand, die Wirkung hinge von mehreren Umständen ab, die bei der Einnahme zu beachten seien, Erläuterungen im Anhang auf Seite 873. Diese Fußnote hatte sie am Morgen übersehen und gleich mit dem Kochen angefangen. Schnell blätterte sie bis hinten durch.
»Nein!«
Was sie sah, beziehungsweise nicht sah, war links 872, rechts 875. In der Mitte nur noch ein