Wachtmeister Studer. Friedrich C. GlauserЧитать онлайн книгу.
sechs. Wir haben den Zehnstundentag.« Dann fügte Schlumpf eifrig hinzu: »Überhaupt, in der Gärtnerei kenn ich mich aus. Der Vorarbeiter auf dem Tessenberg hat immer gesagt, ich kann etwas. Und ich schaff’ gern…«
»Das ist mir gleich!« Studer sprach absichtlich streng. »Nach dem Feierabend bist du ins Dorf, in dein Zimmer. Wo hast du gewohnt?«
»Bei Hofmanns, in der Bahnhofstraße. Ihr findet das Haus leicht. Die Frau Hofmann war eine Gute… Sie haben eine Korberei.«
»Das interessiert mich nicht! Du bist in dein Zimmer, hast dich gewaschen. Dann bist du zum Nachtessen gegangen? Oder?«
»Ja.«
»Also: sechs Uhr Feierabend.« Studer zog ein Notizheft aus der Tasche und begann nachzuschreiben. »Sechs Uhr Feierabend, halb sieben – viertel vor sieben Nachtessen…« Aufblickend: »Hast du schnell gegessen? Langsam? Hast du Hunger gehabt?«
»Nicht viel Hunger…«
»Dann hast du schnell gegessen und warst um sieben fertig…«
Studer schien in sein Notizbuch zu starren, aber seine Augen waren beweglich. Er sah die Veränderung in den Gesichtszügen des Schlumpf und unterbrach die Spannung, indem er harmlos fragte:
»Wie viel hast du für das Nachtessen bezahlt?«
»Eins fünfzig. Zu Mittag hab ich immer beim Ellenberger eine Suppe gegessen und Brot und Käs mitgebracht. Der Ellenberger hat nur fünfzig Rappen für den Teller Suppe verlangt, und z’Immis hat er umsonst gegeben, denn der Ellenberger war immer anständig mit uns, wir haben ihn gern gehabt, er hat so kohlig dahergeredet, er sieht aus, wie ein uralter Mann, hat keine Zähne mehr, aber…« dies alles in einem Atemzug, als ob der Redende vor einer Unterbrechung Angst hätte. Doch Studer wollte diesmal auf das Geschwätz nicht eingehen.
»Was hast du am Mittwochabend zwischen sieben und acht Uhr gemacht?« fragte er streng. Er hielt den Bleistift zwischen den mageren Fingern und blickte nicht auf.
»Zwischen sechs und sieben?« Schlumpf atmete schwer.
»Nein, zwischen sieben und acht. Um sieben warst du mit dem Nachtessen fertig, um acht hast du im ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt. Wer hat dir die dreihundert Franken gegeben?«
Und Studer blickte den Burschen fest an. Schlumpf drehte den Kopf zur Seite, plötzlich warf er sich herum, drückte die Augen in die Ellbogenbeuge. Sein Körper zitterte.
Studer wartete. Er war nicht unzufrieden. Mit kleinen Buchstaben schrieb er in sein Notizbuch: ›Sonja Witschi‹ und malte hinter die Worte ein großes Fragezeichen. Dann wurde seine Stimme weich, als er sagte:
»Schlumpfli, wir werden die Sache schon einrenken. Ich hab’ dich extra nicht gefragt, was du am Dienstagabend, also am Abend vor dem Mord, getan hast. Da hättest du mich doch nur angelogen. Und dann steht es sicher in den Akten, und ich kann auch deine Wirtin fragen… Aber sag mir noch: Was ist die Sonja für ein Meitschi? Ist sie das einzige Kind?«
Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.
»Ein Bruder ist noch da. Der Armin!«
»Und den Armin magst du nicht?«
Dem habe er einmal zünftig auf den Gring gegeben, sagte Schlumpf und zeigte die Zähne wie ein knurrender Hund.
»Der Armin hat dir die Schwester nicht gönnen mögen?«
»Ja; und mit dem Vater hat er auch immer Krach gehabt. Der Witschi hat sich oft genug über ihn beklagt…«
»Soso… Und die Mutter?«
»Die Alte hat immer Romane gelesen…« (›die Alte‹, sagte der Bursche respektlos). »Sie ist mit dem Gemeindepräsidenten Äschbacher verwandt und der hat ihr den Bahnhofkiosk in Gerzenstein verschafft. Dort ist sie immer gehockt und hat gelesen, während der Vater hausiert hat… Nicht gerade hausiert. Er ist mit einem Zehnderli herumgefahren, als Reisender für Bodenwichse, Kaffee… Und das Zehnderli hat man ja auch gefunden, ganz in der Nähe, es stand an der Straße…«
»Und wo ist der alte Witschi gelegen?«
»Hundert Meter davon, im Wald, hat der Cottereau erzählt…«
Studer zeichnete Männlein in sein Notizbuch. Er war plötzlich weit weg. Er war in dem Krachen im Oberaargau, wo er den Burschen verhaftet hatte. Die Mutter hatte ihm aufgemacht. Eine merkwürdige Frau, diese Mutter des Schlumpf! Sie war gar nicht erstaunt gewesen. Sie hatte nur gefragt: »Aber er darf noch z’Morgen essen?«.
Ein kleines Mädchen in Gerzenstein, eine alte Mutter im Oberaargau… und zwischen beiden der Bursche Schlumpf, angeklagt des Mordes…
Es kam ganz darauf an, was für ein Untersuchungsrichter den Fall übernehmen würde… Man müsste mit dem Mann reden können. Vielleicht…
Schritte kamen näher. Der Wärter Liechti erschien in der Tür und sein rotes Gesicht glänzte boshaft.
»Wachtmeister, der Herr Untersuchungsrichter will Euch sprechen.«
Und Liechti grinste unverschämt. Es war nicht schwer zu erraten, was das Grinsen zu bedeuten hatte. Ein Fahnder hatte seine Kompetenzen überschritten und wurde eingeladen, den fälligen Rüffel in Empfang zu nehmen…
»Leb wohl, Schlumpfli!« sagte Studer. »Mach keine Dummheiten mehr. Soll ich die Sonja grüßen, wenn ich sie seh’? Ja? Also; ich komm dich dann vielleicht einmal besuchen. Leb wohl!«
Und während Studer durch die langen Gänge des Schlosses schritt, konnte er den Blick nicht los werden und den Blick nicht deuten, mit dem ihm Schlumpf nachgeblickt hatte. Erstaunen lag darin, jawohl, aber hockte nicht auch eine trostlose Verzweiflung auf dem Grunde?
Der Fall Wendelin Witschi zum ersten
Ihr seid…« (Räuspern.) »Ihr seid der Wachtmeister Studer?«
»Ja.«
»Nehmt Platz.«
Der Untersuchungsrichter war klein, mager, gelb. Sein Rock war über den Achseln gepolstert und von lilabrauner Farbe. Zu einem weißen, seidenen Hemd trug er eine kornblumenblaue Krawatte. In den dicken Siegelring war ein Wappen eingraviert – der Ring schien übrigens alt.
»Wachtmeister Studer, ich möchte Euch sehr höflich fragen, was Ihr Euch eigentlich vorstellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch eigenmächtig – ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, der…«
Der Untersuchungsrichter stockte und wusste selbst nicht weshalb. Da saß vor ihm ein einfacher Fahnder, ein älterer Mann, an dem nichts Auffälliges war: Hemd