Wachtmeister Studer. Friedrich C. GlauserЧитать онлайн книгу.
den ordnungsmäßig eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? Ich will ja gerne zugeben, dass Ihr Besuch höchst opportun gewesen ist – das will aber noch nicht sagen, dass er sich mit dem Kompetenzbereich der Fahndungspolizei gedeckt hat. Denn, Herr Wachtmeister, Sie sind schon lange genug im Dienste, um zu wissen, dass ein fruchtbares Zusammenarbeiten der diversen Instanzen nur dann möglich ist, wenn jede darauf sieht, dass sie sich streng in den Grenzen ihres Kompetenzbereiches hält…«
Nicht einmal, nein, dreimal das Wort Kompetenz… Studer war im Bild. Das trifft sich günstig, dachte er, das sind die Bösesten nicht, die immer mit der Kompetenz aufrücken. Man muss nur freundlich zu ihnen sein und sie recht ernst nehmen, dann fressen sie einem aus der Hand…
»Natürlich, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer und seine Stimme drückte Sanftmut und Respekt aus, »ich bin mir bewusst, dass ich wahr- und wahrhaftig meine Kompetenzen überschritten habe. Sie stellten ganz richtig fest, dass ich es bei der Einlieferung des Häftlings Schlumpf Erwin hätte bewenden lassen sollen. Und dann – ja, Herr Untersuchungsrichter, der Mensch ist schwach – dann dachte ich, dass der Fall vielleicht doch nicht so klar liege, wie ich es anfangs angenommen hatte. Es könnte möglich sein, dachte ich, dass eine weitere Untersuchung des Falles sich als nötig erweisen würde und dass ich vielleicht mit deren Verfolgung betraut werden könnte, und da wollte ich im Bilde sein…«
Der Untersuchungsrichter war sichtlich schon versöhnt.
»Aber, Wachtmeister«, sagte er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließlich, wenn dieser Schlumpf sich auch erhängt hätte, das Malheur wäre nicht groß gewesen – ich wäre eine unangenehme Sache los geworden und der Staat hätte keine Gerichtskosten zu tragen brauchen…«
»Gewiss, Herr Untersuchungsrichter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirklich der ganze Fall erledigt gewesen? Denn dass der Schlumpf unschuldig ist, werden auch Sie bald herausfinden.«
Eigentlich war eine derartige Behauptung eine Frechheit. Aber so ehrerbietig war Studers Stimme, so zwingend heischte sie Bejahung, dass dem Herrn mit dem wappengeschmückten Siegelring nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken.
Mit braunem Holz waren die Wände des Raumes getäfelt, und da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren, schimmerte die Luft wie dunkles Gold.
»Die Akten des Falles«, sagte der Untersuchungsrichter ein wenig unsicher. »Die Akten des Falles… Ich habe noch nicht recht Zeit gehabt, mich mit ihnen zu beschäftigen… Warten Sie…«
Rechts von ihm waren fünf Aktenbündel übereinander geschichtet. Das unterste, das dünnste, war das richtige. Auf dem blauen Kartondeckel stand:
SCHLUMPF ERWIN
MORD
»Leider«, sagte Studer und machte ein unschuldiges Gesicht. »Leider hat man in letzter Zeit ziemlich viel von mangelhaft geführten Untersuchungen gehört. Und da wäre es vielleicht besser, wenn man sich auch bei einem so klaren Fall mit den notwendigen Kautelen umgeben würde…«
Innerlich grinste er: Kommst du mir mit Kompetenz, komm ich dir mit Kautelen.
Der Untersuchungsrichter nickte. Er hatte eine Hornbrille aus einem Futteral gezogen, sie auf die Nase gesetzt. Jetzt sah er aus wie ein trauriger Filmkomiker.
»Gewiss, gewiss, Wachtmeister. Sie müssen nur bedenken, es ist meine erste schwere Untersuchung, und da wird mir natürlich Ihre Kompetenz in diesen Angelegenheiten…«
Weiter kam er nicht. Studer hob abwehrend die Hand.
Aber der Untersuchungsrichter beachtete die Bewegung nicht. Er hatte zwei Fotografien in der Hand und reichte sie über den Tisch:
»Aufnahmen des Tatortes…«, sagte er.
Studer betrachtete die Bilder. Sie waren nicht schlecht, obwohl sie von keinem kriminologisch geschulten Fachmann aufgenommen worden waren. Auf beiden sah man das Unterholz eines Tannenwaldes und auf dem Boden, der mit dürren Nadeln übersät war – die Bilder waren sehr scharf –, lag eine dunkle Gestalt auf dem Bauch. Rechts am kahlen Hinterkopf, schätzungsweise drei Finger breit von der Ohrmuschel, gerade über einem dünnen Haarkranz, der zum Teil den Rockkragen bedeckte, war ein dunkles Loch zu sehen. Es sah ziemlich abstoßend aus. Aber Studer war an solche Bilder gewöhnt. Er fragte nur:
»Taschen leer?«
»Warten Sie, ich habe hier den Rapport vom Landjägerkorporal Murmann…«
»Ah«, unterbrach Studer, »der Murmann ist in Gerzenstein. So, so!«
»Kennen Sie ihn?«
»Doch, doch. Ein Kollege. Hab ihn aber schon viele Jahre nicht gesehen. Was schreibt der Murmann?«
Der Untersuchungsrichter drehte das Blatt um, dann murmelte er halbe Sätze vor sich hin. Studer verstand:
»… männliche Leiche auf dem Bauche liegend… Einschuss hinter dem rechten Ohr… Kugel im Kopf stecken geblieben… wahrscheinlich aus einem 6,5 Browning…«
»In Waffen kennt er sich aus, der Murmann!« bemerkte Studer.
»… Taschen leer…«, sagte der Untersuchungsrichter.
»Was?« ganz scharf die Frage. »Haben Sie zufällig eine Lupe?« Alle Höflichkeit war aus Studers Stimme verschwunden.
»Eine Lupe? Ja. Warten Sie. Hier…«
Ein paar Augenblicke war es still. Durch einen Spalt der Fensterläden fiel ein Sonnenstrahl gerade auf Studers Haar. Schweigend betrachtete der Untersuchungsrichter den Mann, der da vor ihm hockte, den breiten, runden Rücken und die grauen Haare, die glänzten, wie das Fell eines Apfelschimmels.
»Das ist lustig«, sagte Wachtmeister Studer mit leiser Stimme. (Was, zum Teufel, ist an der Fotografie eines Ermordeten lustig! dachte der Untersuchungsrichter.) »Der Rock ist ja ganz sauber auf dem Rücken…«
»Sauber auf dem Rücken? Ja, und?«
»Und die Taschen sind leer«, sagte Studer kurz, als sei damit alles erklärt.
»Ich versteh’ nicht…« Der Untersuchungsrichter nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch.
»Wenn…«, sagte Studer und tippte mit der Lupe auf die Aufnahme. »Wenn Sie sich vorstellen, dass der Mann hier im Walde meuchlings überfallen worden ist, dass ihn einer von hinten niedergeschossen hat, so geht aus der Lage der Leiche hervor, dass der Mann vornüber