Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
Nichts regte sich; die drei am Rande der Schlucht verteilten Gestalten schienen mit dem Erdboden eins zu sein. Aber Heinrich Seilers Augen wanderten abwechselnd von dem einen zum andern, irrten auch über das Gestrüpp unter der Kiefer hin. Doch es schien, als ob die beiden Albrecht, falls es wirklich Hans gewesen war, vorläufig ihre Stellung nicht verlassen wollten. Dann kam wieder der Pfiff, nur leiser, dann ein Rascheln neben Heinrich Seiler, das sich bald in der Ferne verlor. Und als der Lauscher nun die zweite Gestalt dort drüben suchte, war auch sie verschwunden.
Die Dämmerung sank herab und es wurde empfindlich kühl. Trotzdem hielt Heinrich auf seinem Platz noch aus. Allerdings – zu sehen gab es nichts mehr. Aber er wußte ja auch genug. Wie schlau die beiden, die er eben beobachtet hatte, sich durch die Pfiffe verständigten, wie vorsichtig sie waren …! Jetzt war ja auch das geheimnisvolle Verschwinden aufgeklärt …! Der Junge triumphierte. So war seine Geduld doch belohnt worden … Endlich!
Erst als die Dunkelheit die Ginsterschlucht und ihre Umgebung dicht einhüllte, verließ Heinrich Seiler seinen Posten. Die Glieder waren ihm steif geworden. Die Zähne schlugen ihm vor Kälte zusammen. Aber trotzdem glitt er leise und geschmeidig, tief gebückt dahin, blieb öfters stehen und lauschte … Er wußte sehr wohl, was ihm bevorstand, wenn ihn vielleicht die Brüder Albrecht hier erwischten. Eine Tracht Prügel war das mindeste. Und davon hatte Heinrich gerade genug schon zu Hause kennen gelernt. Doch unangefochten langte er daheim an. Und als er, sein kärgliches Abendrot verzehrend, am Tisch saß, überlegte er die Erlebnisse des heutigen Tages. Immer klarer wurde es ihm, daß seine Freunde auf verbotenen Wegen wandelten, und ebenso fest nahm er sich vor, die erste Gelegenheit zu benutzen, um hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht zu kommen.
6. Kapitel
Der Kriminalkommissar Kern mußte von Tag zu Tag mehr einsehen, daß ›Schusterkarl‹ und der Müllersche Einbruch ihm kaum zu dem Inspektorposten verhelfen würden. Die Untersuchung beider Sachen war gänzlich ins Stocken geraten. Man kam über den toten Punkt nicht hinweg, der mit der vergeblichen Jagd auf den Berliner Einbrecher erreicht war.
Kern saß in seinem Amtszimmer am Schreibtisch und rauchte mißmutig seine Zigarre. Draußen plätscherte eine wahre Sintflut von Regen gegen das Fenster. In dem Zimmer war’s trotz der Vormittagsstunde halbdunkel. Es herrschte so ein unbehagliches Dämmerlicht, das auf die Stimmung des Kommissars noch mehr drückte.
Kern sann hin und her, suchte einen Punkt, an dem er die Untersuchung von neuem energisch angreifen konnte. Auch sein getreuer Helfer, Jakob Fischer, hatte diesmal versagt. Und wie lächelten die Kollegen so ironisch, als sie die Geschichte von dem festgenommenen Jungen erfuhren. Er hatte dieses … niederträchtige Lächeln überall gesehen, und es trieb ihm die Galle ins Blut …
Der Kommissar ballte ingrimmig die Fäuste. Und er grübelte und grübelte. Und draußen schlug der Regen an die Fenster. Die Tropfen klatschten gegen die Scheiben, daß es nur so knatterte. Der arme Kern wurde immer nervöser. Die Zigarre war längst ausgegangen. Sie schmeckte ihm auch nicht … Seufzend griff er endlich, des vergeblichen Nachsinnens müde, nach einem Aktenstück und begann darin zu blättern. Doch so leicht ließen sich die Gedanken nicht ablenken … Der Inspektorposten … ›Schusterkarl‹, – der Einbruch; um die drei Dinge tanzten seine Gedanken wie um drei Altäre. Und an jedem der Altäre erflehten sie etwas anderes … vergeblich … vergeblich …
Was hatte es nun genützt, daß Fischer in allen möglichen Verkleidungen das Haus, in dem der Flickschuster Albrecht wohnte, Tag und Nacht bewachte. Wozu hatte er mit noch zwei Beamten an drei Abenden hinter dem Stallgebäude dort draußen in der Vorstadt auf der Lauer gelegen … wozu? – Und wer war’s eigentlich gewesen, der ihnen damals so geschickt entschlüpfte, als sie nachher nur einen … dreizehnjährigen Jungen ergriffen … ergriffen statt dessen, der so heimlich sich an die Gebäude herangeschlichen hatte.
War’s wirklich ›Schusterkarl‹ gewesen, der ihnen damals entkam? – Er wollte es nicht glauben, obwohl Jakob Fischer seinen Kopf dafür verwetten wollte. Und wenn’s wirklich der Berliner Einbrecher gewesen, ja, dann … dann ade, du Hoffnung! Dann war er gewarnt und längst über alle Berge. –
Mechanisch schlug Kern wieder eine Seite um. Aber er las nicht; er grübelte weiter. Und langsam änderte sich seine Stimmung. Hatte er noch eben mit stiller Wut an seine Mißerfolge gedacht, jetzt war’s schon wie stilles Verzichten in ihm. Er gab das Rennen auf …
So traf ihn Jakob Fischer, der zum üblichen Bericht sich bei ihm meldete.
»Etwas Neues?« fragte Kern gedrückt.
»Nein, Herr Kommissar, nichts!« –
Fischer betrachtete beinahe mitleidig seinen Vorgesetzten, der ihm heute so verändert vorkam. Wie zusammengesunken er dasaß, und wie verzagt er aussah …
»Herr Kommissar,« begann der Beamte da zögernd, »ich habe mir da so etwas überlegt …«
Aber Kern schien teilnahmslos. Er schaute nicht einmal auf, fragte nicht.
»Ja, ich will mich doch mal an den Jungen anpirschen, den wir damals leider …«
»Leider! Sie haben recht, Fischer, leider …! Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen – alte Geschichte!«
Jakob Fischer nickte nur. Dann fuhr er fort: »Ich verspreche mir doch so einiges von dem Jungen. Er wohnt ja in demselben Haus mit dem Albrecht und hat vielleicht manches gesehen, was mir entgangen ist …«
Kern machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Meinetwegen, Fischer, – ich habe nichts dagegen, wenn ich auch wenig, oder besser gesagt, gar keine Hoffnung mehr habe …«
»Wer kann wissen?!« meinte Fischer und zog die Schultern hoch. »Manchmal erlebt man so Überraschungen …«
»Oh ja,« sagte der Kommissar bitter, »leider keine angenehmen!«
Aber der Kriminalbeamte wollte dieses Letzte doch noch versuchen. –
An demselben Vormittag gegen zwölf Uhr klopfte es recht bescheiden an die Tür der Seilerschen Wohnung. Heinrich, der gerade dem Vater aus einem alten Buch, das eine Schilderung der Befreiungskriege enthielt, vorlas, rief ohne Bedenken »Herein!«. Sie bekamen ja so selten Besuch; meist kamen nur die Nachbarn und jetzt, seitdem der Vater krank war, der Arzt.
Aber heute war’s ein Postbote mit grauem Vollbart, der die Schwelle überschritt und dann hinter sich die Tür zudrückte.
»Guten Morgen, Herr Seiler,« sagte er gemütlich und ging ohne weiteres auf das Bett zu. »Ich habe hier einen Brief an Sie … so … bitte schön.«
Der Kranke drehte das Schreiben verwundert zwischen den Fingern. Es passierte nicht oft, daß er Briefe erhielt, und die brachten dann gewöhnlich noch Unangenehmes.
Der Postbote, der an den Kragen seiner Uniform die schmale goldene Tresse der altgedienten Briefträger trug, schien ähnliche Befürchtungen aus der Miene des Empfängers herauszulesen.
»Es ist ja nur eine Offerte von einer Werkzeugfabrik,« meinte er beruhigend. Und dann setzte er teilnahmsvoll hinzu: »Sind Sie schon lange krank, Herr Seiler? Sehen Sie, ich bin hier neu im Bezirk, erst vor wenigen Tagen herversetzt … Ja, – na und da freundet man sich doch gerne bald an …« Das klang wieder so gutmütig und ehrlich, daß der Kranke, dessen Laune zumeist nicht die beste war, freundlich erwiderte:
»Es geht ja jetzt besser – ja, ja! Der verd… Schnaps!« Und dann kam eine lange Rede, wie man sie von Seiler sicher nicht oft zu hören bekam. Er schimpfte auf die, die den armen Leuten das Geld aus der Tasche zögen und sie krank mit ihrem verf… Fusel machten,« redete und redete …
Der Briefträger, der von dem Regen ordentlich durchnäßt war, hatte sich zu ihm auf einen Stuhl gesetzt und wollte das Ende des Regens abwarten. Schließlich kamen sie auch auf andere Dinge zu sprechen. Der