Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
muß doch die Leute kennen lernen, mit denen man zu tun hat,« meinte er in seiner biederen Art. Auch Heinrich, der bisher schweigend am Fenster gesessen hatte, zog er ins Gespräch. Da den Kranken die Unterhaltung doch anstrengte, so hörte er jetzt ganz gern zu, wie sein Junge sich mit dem Briefträger unterhielt … über die Schule, die Freunde.
Und Heinrich Seiler, der bald zutraulich geworden war, kramte nun seine kleinen und großen Sorgen aus, erzählte auch von dem Abenteuer, wobei er die eine Mark verdient hatte, … aber was ihn hauptsächlich bewegte, das verschwieg er beharrlich, obwohl ihm das Geheimnis der Ginsterschlucht und all das andere, was er sich so zurechtgelegt hatte, auf den Lippen brannte.
»So, so – also noch zwei Jungen gibt’s hier im Haus,« fing der Briefträger wieder an. »Na, da treibt ihr euch wohl ordentlich zusammen rum, – was?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Na – mit denen geh ich nicht mehr,« sagte er unvorsichtig.
»Da habt ihr euch wohl gestritten! Na, wird nicht so schlimm sein …«
Heinrich Seilers Gesicht zeigte jetzt einen eigenartig pfiffigen Ausdruck. Er verzog den Mund zu einer Grimasse und … schwieg. Denn plötzlich war ihm die Erinnerung an den letzten Sonnabendabend gekommen. Da hatte der Albrecht ja auch so freundlich getan und … na, kurz und gut, dieser gutmütig scheinende Postbeamte kam dem Jungen plötzlich verdächtig vor. Er beantwortete die folgenden Fragen so kurz und ablehnend, daß dieser neugierige Besucher endlich aufbrach.
»Na, Herr Seiler, vielleicht sehe ich noch einmal nach Ihnen,« meinte er beim Fortgehen. Und Seiler konnte der Wahrheit gemäß nur sagen, daß ihm sein Besuch sehr angenehm sein würde.
Es goß noch immer draußen. Der Briefträger ging aber trotzdem langsamen Schrittes die Straße entlang und bog dann in die Herderstraße ein. Hier wartete er auf eine Elektrische, stieg ein und fuhr zur Stadt. Er hatte sich in den Wagen gesetzt und starrte gedankenverloren vor sich hin.
Also auch dieser Besuch war so gut wie erfolglos geblieben; das mußte sich Jakob Fischer, denn er und kein anderer war der gemütliche Postbote, selbst sagen. Erfolglos? Hm! So ganz harmlos war ihm dieser Junge mit dem schlauen Fuchsgesicht doch nicht vorgekommen. Er sann und sann. Ja, dieses plötzliche, unfreundliche Wesen des Bengels hatte irgend etwas zu bedeuten! Sollte …? Ja, da hatte er die Erklärung! Der Junge war schlauer, als Jakob Fischer angenommen hatte! Der Bengel hatte gemerkt, daß er ausgehorcht werden sollte, und da – na, da war’s eben mit seiner Redseligkeit vorbei!
Die Elektrische eilte weiter. Der Kondukteur kam und teilte die Billette aus. Auch auf dem Vorderperron standen Leute. Denen reichte er sie durch das Schiebefenster. Zufällig schaute Jakob Fischer auf, zufällig sah er gerade hin, als der Kondukteur einem halbwüchsigen Burschen, der einen kleinen, grünen Filzhut aufhatte, den roten Zettel gab. Da ging’s wie ein Ruck durch den Körper des Kriminalbeamten. Aber er vermied es, nochmals hinzusehen.
Wär’s möglich? War das der Heinrich Seiler, mit dem er noch soeben in der engen dumpfen Stube in der Gneisenaustraße gesprochen hatte? Die Gedanken arbeiteten blitzschnell, sie klärten sich. Also so stand’s mit dem Burschen! Dieser Bengel spionierte ihm nach, dieser grüne Junge wollte ihn, ihn überlisten …
Nun wagte er einen Blick nach dem Vorderperron hin, er schien sich umzusehen, weiter nichts. Ohne Interesse glitt des Beamten Auge über die Mitfahrenden. Aber er hatte genug gesehen. Da vorne auf dem Perron, da stand Heinrich Seiler – kein Zweifel – Er war es! –
Und nachher hatte Jakob Fischer nochmals Gelegenheit, sich von der Wahrheit seiner Annahme zu überzeugen. Der Junge war ihm durch die Straßen gefolgt, als er nach seiner Wohnung gehen und die Verkleidung ablegen wollte, und es hatte den Kriminalbeamten beinahe Mühe gekostet, den Verfolger von seiner Spur abzubringen. –
Während dann Heinrich, unzufrieden darüber, daß er den Briefträger trotz größter Aufmerksamkeit doch aus den Augen verloren hatte, mit der elektrischen Bahn heimkehrte, fand in dem Zimmer des Kriminalkommissars zwischen Kern und Fischer eine lange Unterredung statt.
Nachdem Fischer über seine Beobachtungen berichtet hatte, berieten sie über die weiteren Schritte. Kern hätte laut aufjubeln mögen. Da war ja der neue Angriffspunkt gefunden! Nun konnte er wieder hoffen! – Denn daß dieses Bürschlein mehr wußte, als es schien, das war für Kern unzweifelhaft. Wozu wäre er sonst dem harmlosen Briefträger gefolgt, wenn er nicht irgendeine Gefahr witterte? Fischer hatte recht. Der Bengel hatte schon damals am Abend als Wache auf der Brunnenröhre gesessen und sie alle genasführt. Und jetzt witterte er in dem Postbeamten den Feind, der hinter seine Geheimnisse kommen, ihn aushorchen wollte. Und dieser Heinrich Seiler, die beiden Söhne des Albrecht und der ›Schusterkarl‹, – sie alle steckten unter einer Decke …
Der Kommissar rieb sich vergnügt die Hände.
»Fischer, wenn uns der Fischzug gelingt,« meinte er witzelnd, »dann sorge ich für Sie, dann verlangen Sie von mir, was Sie wollen! – Aber jetzt nicht nachlassen – die Augen aufsperren! Wir haben es mit schlauen Gegnern zu tun!«
7. Kapitel
Als der Polizeirat Scheller sich kaum auf seinen altgewohnten Platz am Stammtisch bei Kirsan niedergelassen und der altgediente Kellner, den die Tischrunde nie mit ›Kellner‹, sondern stets mit ›Herr Scheffler‹ benannte, ihm den Halbliterkrug offen hingestellt hatte, fing auch schon der Braumeister Görtz, Schellers bester Freund, mit leisem Vorwurf in der Stimme an:
»Heute so spät, Franz!« Und dann zog er die Uhr und wies mit dem Finger auf die Zeigerstellung.
»Ja, ja, – ich weiß, – halb vier Uhr! Aber …« Das Weitere verschwand in undeutlichem Gemurmel.
»Oho,« lachte Görtz, »Alterchen, du bist heute schlechter Laune!« Und die fünf anderen Herren des Stammtisches nickten nur. Zweifellos – Scheller hatte Ärger gehabt. Denn für gewöhnlich ließ er die köstliche Spatenblume nicht so lange abstehen.
Der Polizeirat schaute beinahe tiefsinnig auf den bräunlichen Schaum am Rande des Glases, der jetzt langsam in sich zusammensank. Dann fuhr er mit der Hand durch den wohlgepflegten Vollbart und … endlich griff er nach dem Halbliterkrug! Wie ein Seufzer der Erleichterung ging es durch die Tischrunde. Mit sichtlichem Behagen tat Scheller einen tiefen Zug; die Wolken auf seiner Stirn lichteten sich, die Lebensfreude brach mit frohem Leuchten wie heiteres Sonnenlicht hervor.
»Ja, meine Herren, man hat wirklich so seinen Ärger,« meinte er dann ernst. »Mein Amt ist eines von denen, die einen nie so recht seines Herzens froh werden lassen. Und das wird immer so bleiben, solange noch eine Verbrecherzunft hier im gesegneten Deutschland existiert, – also voraussichtlich immer!«
Einige der Herren erlaubten sich zu diesem Stoßseufzer ein etwas ironisches, ungläubiges Lächeln aufzustecken. Besonders der Sanitätsrat Freimut, dessen Genießergesicht meist ein behaglicher Zug von Leichtsinn verschönte, mußte jetzt noch auf seine Art über Schellers Amtssorgen quittieren. Er hob sein Glas und sagte zu dem Braumeister Görtz:
»Prosit, Görtz, – und laß dich von Schellers periodenweise sich einstellender Amtsmüdigkeit nicht weiter beunruhigen. Den langen Vers von der Schwere der Polizeiratstätigkeit hören wir ja pünktlich alle vier Wochen!« –
Dann trank er dem Braumeister zu, und blinzelte dabei dessen Freund von der Seite an. –
Die Herren lachten. Man kannte diese Szenen am Stammtisch so gut, kannte die Eigenheiten des einzelnen und daher auch Schellers leichte Reizbarkeit und Görtz’ schnelle Angst um die Seelenruhe des alten Freundes. Nachdem ›Herr Scheffler‹ die Gläser aufs neue gefüllt hatte und die Blume abgetrunken war, meinte der Sanitätsrat mit dem heitersten Gesicht von der Welt:
»Nun schießen Sie los, Scheller – was hat’s denn heute wieder Neues in Ihrer Polizeiburg gegeben? – Neues, das heißt Arbeit für Sie, daher der Ärger, die Amtsmüdigkeit;