Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
auch von anderer Seite in ihn gedrungen wurde, da bequemte er sich endlich doch zum Reden.
»Heute nacht ist in der Destillation zum ›Bunten Bock‹ eingebrochen worden. Die Diebe haben aus dem Geldschrank an fünfzehnhundert Mark bares Geld erbeutet!«
Nun hatte auch der Polizeirat seinen Triumph. Vorhin waren alle über ihn hergefallen, hatten ihren sogenannten Frühschoppenwitz an ihm ausgelassen! Und jetzt, jetzt würden sie ihn wieder mit Bitten bestürmen, daß er ihnen Genaueres erzähle. Sie waren ja alle gleich, die Menschen, ob jung, ob alt! Wenn sich’s um die dunklen Seiten der menschlichen Natur, um Verbrecher und Verbrechen handelte, dann spitzten sie die Ohren und horchten mit angenehmem Gruseln hin, wie anderen so blanke fünfzehnhundert Mark verloren gingen durch einen genialen Gaunerstreich!
Scheller kannte seine Stammtischfreunde nur zu gut. Jetzt ging das Gefrage los. Neckerei, Spottsucht – alles war in den Hintergrund getreten. Der Polizeirat gab willig Antwort, soweit er es eben für vereinbar mit den Interessen der Untersuchung hielt.
Sanitätsrat Freimut war jetzt einer der lautesten.
»Meine Herren, ist das nicht unerhört! Der Einbruch bei dem Uhrmacher Müller in der Herderstraße liegt kaum vierzehn Tage zurück und jetzt … jetzt sind wir hier schon so weit, daß die Einbrecher in aller Gemütsruhe Geldschränke ›knacken‹, – so soll ja wohl der Kunstausdruck lauten! – Schellerchen, Schellerchen, ich fürchte jetzt auch, daß Ihr die nächste Zeit nicht auf Rosen tanzen werdet. Noch steht der Erfolg in der Müllerschen Sache aus und schon gibt’s neue Arbeit! Ja, jetzt begreife ich auch Ihre Mißstimmung! Na, nichts für ungut, ich war vorhin wieder etwas stark ironisch … Nicht krumm nehmen, Schellerchen … Prosit!«
Der Polizeirat lächelte vor sich hin. »Mein Beruf, meine Herren,« sagte er dann ohne Selbstgefälligkeit, »ist in der Tat überaus schwer. Sehen Sie, wenn einer von Ihnen mit seiner Tagesarbeit fertig ist, dann wird er eben für die freie Zeit wieder ganz Privatmann. Bei mir hört die Arbeit nie auf. Wenn ich im Theater sitze, wie zum Beispiel gestern abend, und mich wirklich während des Spiels an den schönen goetheschen Worten erbaue, dann kommt nachher die Pause und zugleich auch einer meiner Beamten, natürlich in Zivil, und bringt mir einen Zettel von einem der Kommissare, der um Verhaltungsmaßregeln bittet. Dann stecke ich wieder mitten im Geschäft. Und geh ich abends zu Bett und kann nicht gleich einschlafen, – wohin irren die Gedanken? – Regelmäßig dahin, wo meine Schmerzenskinder, die Herren Einbrecher, jüngst wieder eine Dummheit, wollte sagen, einen Einbruch, verübt haben oder sonst wohin. Jedenfalls spazieren sie nie auf den geordneten Pfaden des ehrsamen Bürgers, sondern auf den krummen Wegen, die das Verbrechen geht …«
Braumeister Görtz wurde unruhig. »Kinder, ist das nun eine Art,« polterte er los, »unseren Freund hier so in Rage zu bringen, daß er lange Reden über die Unzuträglichkeiten seines Berufes hält! Wir kommen doch hier zusammen, um in Ruhe unseren Schoppen zu trinken und den neusten Kalauer zu hören! Aber nicht, um des Tages Müh und Last nochmals durchzukosten. Die Geschichte des Einbruchs im ›Bunten Bock‹ lesen wir abends sowieso in der Zeitung. Und Scheller erzählt uns ja doch nichts, was nicht eben jeder wissen dürfte! Also – Schluß damit, meine Herren!«
»Bravo, Braumeister!« klang’s in der Runde. Und Freimut, der sofort wieder die neue Situation beherrschte, fragte mit einem ironischen Lächeln:
»Wer kennt den Unterschied zwischen …«
Die Pointe wurde weidlich belacht. –
Damit war die Stammtischunterhaltung wieder in ruhige Bahnen gelenkt. –
* * *
An demselben Tag saßen abends gegen zehn Uhr die beiden Brüder Albrecht einträchtig neben Heinrich Seiler auf der Brunnenröhre. Heinrich weinte leise vor sich hin. Was half es ihm, daß die beiden ihn trösteten und ihm in ihrer Art gut zugeredeten. Das machte seinen Vater nicht wieder lebendig.
Heute war Seiler begraben worden. Die Besserung, die sich in seinem Befinden an jenem Tag gezeigt hatte, als der freundliche Briefträger so lange bei ihm war, blieb nicht von Bestand. Schon am nächsten Morgen, am Mittwoch, stellte sich heftiges Magenbluten ein, daß der schnell herbeigerufene Arzt kaum zu stillen vermochte. Als der Doktor dann wieder ging, sagte er zu Frau Seiler draußen im Flur:
»Liebe Frau, ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen. Ihr Mann leidet an Magengeschwüren und anscheinend hat ein Durchbruch der Magenwand stattgefunden. Machen Sie sich auf alles gefaßt.«
Der Arzt hatte den Zustand des Kranken nur zu richtig beurteilt. Seiler starb noch in derselben Nacht. Und heute, am Sonnabend, hatte man ihn begraben.
Die Brüder Albrecht, auch der Flickschuster, hatten sich da von einer Seite gezeigt, wie man sie selten bei einfachen Leuten findet. Da bei Seilers natürlich von irgendwelchen Ersparnissen keine Rede sein konnte, so war der Flickschuster großherzig mit seinen wenigen Spargroschen der armen Frau zu Hilfe gekommen, hatte auch einen billigen Sarg besorgt und sogar zwei große Kränze zum Begräbnis gespendet.
Heinrich Seiler ging in diesen Tagen wie ein Träumender umher. Die Allmacht des Todes war ihm neu. Daß ein Leben so plötzlich auslöschte wie ein Licht, das man in den Zugwind stellte und daß dann nie wieder von selbst seinen flackernden Schein aufleuchten lassen konnte, war ihm so unbegreiflich, so unfaßbar. Nie mehr würde er nun vor der Kneipe dort an der Ecke auf den Vater warten, nie mehr … Der, der da so bleich in den weißen Leinenkissen ruhte, konnte ihm nie wieder von der Arbeitsstelle Metallabfälle, Stücke von Röhren und Sprungfedern mitbringen, aus denen er sich dann allerhand Spielzeug gefertigt hatte.
Der in der letzten Zeit so sehr zum Grübeln aufgelegte Junge wurde jetzt noch nachdenklicher und ernster. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten aus dem Kind einen frühreifen Menschen gemacht, der des Lebens wechselndes Auf und Ab mit wissenden Augen zu betrachten begann. Die Mutter hatte es ihm gesagt, – jetzt hieß es auch für ihn: Arbeiten – verdienen!
Unklare Pläne wogten durch sein Hirn. Aber die Aufregungen, die der Tod des Vaters mit sich brachte, ließen ihn zu keinem klaren Gedanken kommen.
Jetzt, da er dem Verstorbenen, den er eigentlich nie geliebt hatte, aus einem Gefühl der unsicheren Verlassenheit heraus Tränen nachweinte, jetzt, da die Erde den einfachen Sarg deckte, begannen sich seine Absichten langsam zu entwirren. Während er auf der Brunnenröhre neben den Brüdern Albrecht hockte und auf die kindlichen Trostworte kaum hinhörte, tauchte wie aus einem Wolkenschleier alles das wieder auf, was er erlebt, gehört und gesehen hatte, fiel ihm wieder ein, daß diese beiden Jungen da neben ihm eigentlich seine Feinde waren …
Heinrich Seilers Tränen versiegten. Eine plötzliche Energie war ihm angeflogen und brachte sein Denken wieder in Unordnung. Nichts mehr von dem träumerischen Schweifenlassen der Gedanken, keine Betrachtungen weiter über das Rätsel des Todes. Vor seinem geistigen Auge stieg ein Bild auf, das er am letzten Sonntag geschaut hatte. Ein geschmeidiger Körper kletterte den Abhang der Ginsterschlucht empor, umfaßte die verkrüppelte Kiefer und schwang sich empor …
Da stand er auf und sagte den Brüdern Albrecht gute Nacht. »Ich muß zu Mutter gehen, die ist so allein,« meinte er erklärend.
»Aber euer neuer Schlafbursche ist ja zu Hause. Vorhin, als ich durch das Fenster sah, saß er am Tisch und schien sich mit deiner Mutter zu unterhalten,« sagte Karl Albrecht schnell. Er schien Heinrich noch etwas fragen zu wollen und suchte ihn zurückzuhalten.
»Ja, der ist ein netter Kerl, und Mutter freut sich, daß er bei uns wohnt. Er bezahlt gut.« – Man merkte dem Jungen die Freude über diese unerwartete Einnahmequelle an.
»So … hm.« Der ältere Albrecht schien nachzusinnen.
»Na, gute Nacht,« sagte Heinrich und reichte dem Jüngeren nochmals die Hand. Dann gingen sie auseinander.
Die beiden Brüder aber setzten sich wieder auf die Brunnenröhre und begannen leise zu flüster. Sie hatten sich jeder eine Zigarette angesteckt und qualmten eifrig, während ihre Köpfe dicht zusammen steckten, so daß einer dem andern die Worte fast ins Ohr sagte.
»Diese Geschichte mit dem Schlafburschen