Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
Fritz Werner ganz genau. Da hörte er unten im Hause Schritte. Schnell trat er zurück, und nachdem er einige Male fest aufgestampft hatte, als ob er gestolpert sei, klopfte er an. Die Tür wurde von innen geöffnet und in dem Rahmen erschien ein kleines buckliges Männchen, das den Besuch mißtrauisch musterte.
»Sie wünschen?« fragte er dann, ließ aber die Tür nicht los, als ob er sie dem Fremden im nächsten Augenblick wieder vor der Nase zuschlagen wollte.
Da hob Werner seinen Stiefel empor. »Hier, – da sitzt der Schaden,« sagte er lachend, »und den sollen Sie reparieren.« Das Männchen betrachtete noch immer mit seltener Neugierde den vor ihm Stehenden.
»Sie sind wohl der Schlafbursche von Seilers?« fragte er dann mit einer Stimme, die liebenswürdig klingen sollte.
»Der bin ich – und heiße Werner – und morgen hole ich den Stiefel wieder ab – nein,« verbesserte er sich schnell, »ich muß ihn noch heute haben, wenn’s auch noch so spät ist. Denn ich gehe morgen schon um fünf Uhr zur Arbeit, da schlafen Sie noch. Also, Sie machen’s mir, nicht wahr?«
Der bucklige Flickschuster war ganz erstaunt über diese kurzangebundene Art.
»Ja, ja, ich mach’s schon!« Dann nahm er Werner den Stiefel ab. »Der Karl bringt ihn, wenn heute nicht, da doch bestimmt morgen früh. Die Jungens sind ja doch augenblicklich außer Arbeit, können ja dann wieder weiterschlafen, – adjes!« Die Tür wurde zugemacht, und Fritz Werner stieg geräuschvoll die Treppe hinab.
Als er wieder am Tisch Frau Seiler gegenübersaß und in dem Buch blätterte, aus dem Heinrich seinem Vater früher immer vorgelesen hatte, kam dieser aus der Stadt zurück. Mürrisch sagte er guten Abend, und auch die Fragen seiner Mutter beantwortete er nur widerwillig. Er setzte sich auf die Ofenbank und starrte vor sich hin.
»Bist du bei dem Doktor gewesen?« fragte nach einer Weile Frau Seiler wider.
»Ja.« –
Fritz Werner legte das Buch beiseite und zog umständlich seine große Nickeluhr hervor. Wieder gähnte er. Dann schaute er zu der arbeitenden Frau hinüber.
»Sie könnten mir etwas zu essen besorgen,« sagte er bescheiden. »Vielleicht holst du mir etwas,« wandte er sich dann plötzlich an Heinrich.
»Ja – ja, – ich habe auch nichts zu Hause als Brot,« warf Frau Seiler ein. So wurde denn Heinrich nach etwas billiger Wurst und einer Flasche Bier zum nächsten Kaufmann geschickt. Als er gegangen, fragte der Arbeiter schnell: »Ist Heinrich immer so – so mürrisch?«
»Ach nein. Ich weiß auch nicht, was ihm fehlt. Ob ihn ›seine‹ Krankheit so – verändert hat?« Mit ›seine‹ meine Frau Seiler die ihres Mannes. »Früher war er ganz anders, immer lustig – hat viel dumme Streiche gemacht, ja, aber …« Dann setzte sie ruhig einen neuen Flicken auf den linken Ärmel von Heinrichs Jacke.
Fritz Werner sprach weiter über den Jungen, fragte, was er werden solle, ob er gut lerne. Und die Frau, die seit Jahren niemand gehabt hatte, der mit ihr ein vernünftiges Wort wechselte, ging dankbar auf dieses Gespräch ein. Dann aßen sie zu Abend, saßen alle drei um den Tisch und ließen es sich gut schmecken. Fritz Werner erzählte von seiner Soldatenzeit, erzählte so lustige Schwänke von dem Hauptmann, der nur immer schimpfte und schrie und doch nie Major wurde, daß auch der Junge lachen mußte. An diesem Abend freundeten sich die beiden etwas an. Und Frau Seiler freute sich darüber. Denn sie mochte den vergnügten und doch so bescheidenen Menschen ganz gut leiden …
Gegen zehn Uhr gingen sie zu Bett. Heinrich und seine Mutter schliefen in der Küche. Fritz Werner in der Stube. Bald hörte der Junge durch die Tür die Schnarchtöne, die bald anschwollen, bald verstummten. Und Heinrich Seiler dachte sich: ›Der schnarcht noch lauter als der Vater.‹ Er selbst konnte nicht einschlafen. Er grübelte und grübelte, wie er’s fertig bringen könnte, die Küche zu verlassen, ohne daß die Mutter es hörte. Er hatte ja das niedrige Fenster schon ein klein wenig offen gelassen, um schneller hinausschlüpfen zu können. Aber bis er sich die Kleider, die Schuhe angezogen, da war die Mutter längst wachgeworden. Eine ganze Weile lag er nun still und lauschte auf ihre regelmäßigen Atemzüge.
Es mußte gewagt werden – mußte! Die Ginsterschlucht lockte ihn, es zog ihn hin, als ob er dort etwas Besonderes finden, entdecken würde. Nicht als ob’s die Abenteuerlust allein gewesen wäre! Nein, sein Denken war in letzter Zeit seltsam reif geworden. Und heute hatte er’s ja in großen Buchstaben an der Litfaßsäule gelesen: Dreihundert Mark Belohnung – dreihundert Mark! Das reizte, das spornte ihn an, alles zu wagen.
Leise erhob er sich. Jetzt knarrte die Diele. Sein Herz begann ihm bis in den Hals hinauf zu klopfen. Aber die Mutter atmete ruhig weiter.
Draußen schien der Mond hell. Und so konnte Heinrich in der Stube wenigstens etwas sehen. Warum Werner da drüben auch gerade jetzt mit dem Schnarchen aufhören mußte; das hatte so schön alles übertönt.
Einer seiner Stiefel glitt ihm aus den Händen und fiel polternd auf die Diele. Heinrich warf sich schnell nieder. Aber nichts regte sich. Er wurde nun dreister; und endlich, endlich – ein Schwung, er war auf dem Fensterbrett, ein Satz, er stand auf der Erde … War frei! Blitzschnell glitt er in den dunklen Schatten, den das Stallgebäude warf. Hier wartete er, horchte und spähte umher.
In der Ferne schlug eine Uhr. Er zählte die Schläge. Zwölf – ihn überlief es kalt. Und dann schaute er in den hellen Mondschein, der alle Gegenstände so klar hervortreten ließ; die Regung von Furcht verschwand wieder. Bald huschte eine schattenhafte Gestalt um die Stallecke und verlor sich in den Feldern.
Fritz Werner hatte auch in dieser Nacht seine Rolle vorzüglich gespielt. Er war gar nicht schlafen gegangen, sondern legte sich nur in Kleidern aufs Bett. Und dann begann die Komödie mit dem Schnarchkonzert. Er wollte den mißtrauischen Jungen und seine Mutter glauben machen, daß er fest schlafe. Sein Plan war, noch in dieser Nacht sich oben auf dem Boden über der Stube des Flickschusters Albrecht auf die Lauer zu legen. Vielleicht konnte er auf diese Weise etwas herausbringen. Und wenn er’s so Nacht für Nacht treiben sollte!! Jakob Fischer war zäh! Und den versäumten Schlaf konnte er dann ja am Tage in seiner Wohnung in der Stadt nachholen. Denn Arbeiter in der Klischeschen Sägemühle war er ja nur für die Seilers und die Nachbarn! –
In den Pausen, die er bisweilen in seinem Schnarchkonzert eintreten ließ, lauschte er angestrengt. Da war’s ihm, als ob er nebenan in der Küche Geräusche hörte.
Blitzschnell, aber völlig geräuschlos, erhob er sich und schlich an die Küchentür. Er schaute durch das Schlüsselloch und konnte so gerade das niedrige Fenster, das der Mond hell beschien, übersehen.
Jetzt – ein dumpfer Fall da drinnen, dann ein Schatten, der sich in seiner Sehlinie bewegte. Wieder vergingen Minuten; Jakob Fischer rührte sich nicht.
Und dann – dann sah er Heinrich Seiler sich zum Fenster hinausschwingen. Blitzschnell eilten seine Gedanken, er überlegte, was zu tun war.
Der Mond schien durch den offenen Fensterflügel in die Küche und zeichnete auf den blank gescheuerten, mit weißem Sand bestreuten Dielen ein helles Viereck. Von der Kirche der Vorstadt tönten die Schläge der Uhr hallend durch die Frühjahrsnacht.
10. Kapitel
Lautlos schwebte um die wunderbar gekrümmten Äste der Kiefer am Rande der Ginsterschlucht eine Eule. Bald strich sie höher, bald niedriger dahin – immer lautlos, gespensterhaft. Jetzt hatte sie sich in den obersten Zweigen niedergelassen. Nun war es still, so wunderbar einsam in der Ginsterheide. Kein Laut durchdrang das Schweigen der Nacht, keine Bewegung in den Sträuchern, in den gelblichen, langen Gräsern. Wie Frühjahrsdunst lagerte es über der Erde. Der scharfe Geruch der verwitterten Blumenpracht des entschwundenen Sommers wurde gemildert durch die Ausstrahlungen des neuen, überall keimende Lebens. So war’s denn seltsam feierlich in dieser Einsamkeit, die der Mond in ein helles Silberlicht tauchte, ein Licht, das so dunkle