Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
behutsam. Ein Körper glitt über den Boden, indem er jede Deckung, jeden Schatten ängstlich ausnutzte. Bisweilen machte er Halt. Dann schien’s, als lausche der Betreffende in die Nacht hinein. Aber nichts regte sich. Weiter schob sich der Körper vorwärts, der Schlucht und der Kiefer entgegen.
Mißtrauisch hatten die an diese eigene Beleuchtung gewöhnten Augen der Eule das Nahen des Eindringlings verfolgt. Jetzt schien’s dem Tier auf seinem Sitz nicht mehr geheuer. Es schwang sich in die Luft und begann weite Kreise über der Schlucht zu ziehen. Indessen war der bebende Körper näher gekommen. Er lag wie ein dunkler Fleck auf der hellbeschienenen Erde, ganz dicht am Rande des Abhangs, vielleicht zwei Meter seitwärts von dem verkrüppelten Baum. Mehrere Minuten lang blieb er so liegen. Und über ihm schwebte der Nachtvogel dahin, mißtrauisch, neugierig. Aus der Ferne hallte der klagende Ruf eines Käuzchens herüber, schwoll an, verhallte in einem schrillen Ton.
Heinrich Seiler wollte in dieser Nacht das Geheimnis der Ginsterschlucht auf jeden Fall aufdecken. Ebenso wie die Erlebnisse der letzten Zeit seinem Denken eine andere Richtung gegeben hatten, so war auch mit der erwachten Energie ein seltener Mut über ihn gekommen. Wenn er bei seinen früheren Ausflügen in die Ginsterheide sich vor den Schrecken der Nacht, vor jedem wispernden Blatt gefürchtet hatte, so ließ er jetzt sein Handeln durch diese Regungen nicht mehr beeinflussen, ging vielmehr an seinem Vorhaben mit einer Überlegung und einer Vorsicht heran, die man bei seinesgleichen wohl kaum so leicht finden dürfte.
Als er noch auf seinem Lager in der Küche gesessen und den Atemzügen der Mutter gelauscht hatte, als er nur darauf wartete, daß ihr tiefer Schlaf ihm ein heimliches Verlassen des Hauses ermöglichte, da waren schon von ihm alle Für und Wider seines Planes reiflich erwogen worden. Er glaubte die Brüder Albrecht heute bestimmen daheim. Wenigstens waren sie, soweit er gehört hatte, abends nicht mehr fortgegangen. Und er wußte ja auch, daß sie ihre Besuche in der Ginsterschlucht stets auf eine frühere Stunde verlegten. Zwölf Uhr hatte es geschlagen, als er in dem Schatten des Stalles ängstlich lauschend stand. Da konnte er sich schon sicher fühlen. Die Brüder lagen dort oben in der Giebelstube in ihren Betten und schliefen. Heute würden sie ihn nicht stören, heute würde er gefahrlos hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht kommen.
So war Heinrich Seiler dann durch die Straßen gehuscht, durch den schweigenden Wald geeilt und lag jetzt am Rande des Abhangs, keine fünf Meter von der Stelle entfernt, wo damals Hans Albrechts Körper so plötzlich aus dem Gestrüpp aufgetaucht war und sich dann so gewandt emporgeschwungen hatte. Heinrich Seiler lauschte angestrengt. Nochmals vergewißerte er sich, daß er allein in der Heide war. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte umher – hinunter in die Tiefe der Schlucht, deren östlicher Abgang in schwarze Finsternis gehüllt war, hinüber zu der ein-samen Kiefer, die ihm mit der Lösung des Rätsels engen zusammenzuhängen schien. Da hörte er den unheimlich klagenden Schrei des Käuzchens, sah auch die Eule um den verkrüppelten Baum schweben. Aber ihm focht das nicht an. Jetzt lächelte er in dem Gedanken, daß er noch vor roter Zeit sicherlich vor diesen Tönen, vor diesem lautlos durch die Luft streichenden Vogel zusammengeschauert wäre. Wie töricht war er doch gewesen – und wie glich er jetzt den Brüdern Albrecht, die sich vor nichts fürchteten, und ihren Mut sogar bei Unternehmungen erprobten, die sie ins Zuchthaus – für Heinrich Seilers Phantasie eine zweite Hölle – bringen konnten.
Über der Ginsterheide und ihren Geheimnissen lagerte die Einsamkeit mit ebenso mächtigem Schweigen wie vorher. Selbst das leise Säuseln und Schwirren des durch die Büsche und Gräser ziehenden Lufthauchs fehlte in dieser windstillen Nacht. Da erhob sich Heinrich langsam und schlich vorwärts im Schatten einiger Ginsterstauden auf die Kiefer zu. Jetzt hatte er sie gerade vor sich; er kroch lautlos, wie eine Schlange, noch näher heran. Mit den Händen tastete er den Boden vor sich ab, legte Zweige und Steine beiseite, damit kein Brechen, kein Knacken oder Anstoßen Geräusch machte. Nur zentimeterweise schob er sich vor, alle Sinne waren gespannt. Seine Augen wanderten unablässig im Kreise umher, seine Ohren lauschten angestrengt. Und jetzt – jetzt konnte er den Arm ausstrecken, berührte schon die rissige Rinde der Kiefer. Da duckte er sich wieder tief auf die Erde und lag längere Zeit still, um für den gefährlichsten Teil seines Vorhabens neue Kräfte zu sammeln.
Er fühlte mit der Hand nach dem Kolben der Pistole, die er sorgfältig auf der Brust verwahrt hatte. Es war das eine jener billigen Feuerwaffen, wie man sie in jedem Eisengeschäft kaufen kann – großkalibrig, Vorderladereinrichtung mit Zündhütchen. Die Pistole hatte Heinrichs Vater gehört. Jetzt hatte er sie heimlich an sich genommen und zusammen mit den Päckchen Pulver und den wenigen großen, runden Kugeln im Stall versteckt gehabt. Er wußte, wie alle Jungen von der Straße, mit Schußwaffen umzugehen, und hatte sie heute scharf geladen mitgenommen. –
Jetzt, als er den hölzernen Kolben und die kalten Eisenteilen mit seinen Fingern berührte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl der Unruhe. Furcht war es nicht. Aber blitzschnell überlegte er, ob er es denn wirklich wagen dürfe, von der Waffe im Notfall Gebrauch zu machen. Er zögerte. Sollte er sie nicht lieber hier ins Gras legen – war’s nicht vielleicht doch besser?
Aber – ja, wenn er nun auf die Brüder Albrecht stieß, sie ihn hier überraschten, hier oder dort hinter jenem Gestrüpp, das sich so dicht vielleicht zwei Meter unter dem Fuß der Kiefer ausbreitete, hinter jenem großen Gebüsch dort, das sicherlich den Eingang zu einem Schlupfwinkel verbarg? Heinrich Seiler behielt die Waffe bei sich. Und nun richtete er sich wieder auf und schob sich noch weiter vorwärts, so daß sein Körper halb über dem Rand der Schlucht hing. Seine rechte Hand schob die Gräser beiseite, die den Fuß des Baumes dicht umstanden. Er brauchte nicht lange zu suchen. Was er vermutet hatte, fand er bestätigt. Um die Kiefer war, verborgen unter dem üppig wuchernden Gras, ein dicker Strick geschlungen.
Jetzt begann Heinrichs Herz doch plötzlich schneller zu schlagen. Er stand vor der Entscheidung. Er brauchte sich nur an dem Strick hinabgleiten zu lassen, dort unten in das Gestrüpp einzudringen – dann mußte der Eingang zu der Höhle vor ihm liegen, er konnte hinein, würde endlich sehen, was die beiden Albrechts oft hierher gelockt hatte. Und weiter – wenn er dann da unten Beweise fand, daß die Brüder jenen Diebstahl bei dem Uhrmacher Müller ausgeführt hatten, so konnte er zur Polizei gehen und sagen: ›Das und das weiß ich.‹ Und dann würden sie ihm Geld schenken, weil er dem Uhrmacher wieder zu seinem Eigentum verholfen und die Täter überführt hatte. Das Geld sollte dann die Mutter bekommen und … Heinrich Seiler lenkte gewaltsam seine Gedanken von diesen Zukunftsträumen ab. Nochmals ein vorsichtiger Blick in die Runde – dann ergriff er das Tau, ließ sich langsam hinabgleiten und hing jetzt in der freien Luft. –
So vorsichtig er auch gewesen, er hatte es doch nicht hindern können, daß ein wenig Erde raschelnd herabgerieselt war. Lauschend hielt er den Atem an und suchte vorsichtig das Ende des Taues zwischen die Füße zu bekommen. Auch das gelang. Langsam rutscht er, als alles ruhig blieb, tiefer, bis er auf einem Vorsprung Halt fand. Behutsam setzte er die Beine auf den Boden. Vor sich hatte er jetzt jenes dichte Gestrüpp von Brombeerbüschen und Ginsterstauden, aus dem Hans Albrecht damals so plötzlich hervorgeschnellt war. Aber vergebens suchte er dieses Gewirr mit den Blicken zu durchdringen. Gerade diese Seite der Schlucht lag im Schatten.
Wieder begann sich Heinrich Seilers Herzschlag zu beschleunigen. Er hörte in dieser beängstigenden Stille die pochenden Töne. Als er emporschaute zu der verkrüppelten Kiefer, die über ihm ihre wenigen Äste gegen den hellen Himmel ausstreckte, sah er die große Eule um den Baum schweben, geisterhaft geräuschlos. Und jetzt schrie ganz in der Nähe das Käuzchen, klagend – hui i hui i.
In dem Augenblick hätte Heinrich Seiler etwas darum gegeben, wenn er weit – Meilen weit fort gewesen wäre. Eine wahnwitzige Angst überkam ihn plötzlich, er zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Schon streckte er seine Arme aus und faßte das Tau wieder fest, um sich emporzuziehen. Aber seine bebenden Finger versagten. Die Furcht hatte seine Muskeln wie im Starrkrampf gelähmt. – –
Jakob Fischer war, nachdem Heinrich Seiler sich kaum aus dem Fenster geschwungen hatte, durch die Stubentür auf den Hausflur hinausgetreten und öffnete vorsichtig die von innen verschlossene Haustür, in deren Schloß der Schlüssel glücklicherweise steckte. Dann schlich er vorsichtig an die Hausecke, und konnte von hier gerade noch zur rechten Zeit den über