Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
er eine ganze Weile an der Türfüllung. Wie lange er dort, gegen diesen Anfall von Schwäche ankämpfend, stand, weiß er nicht. Endlich wankte er der Treppe wieder zu und wollte Lärm schlagen. Plötzlich durchzuckte ihn da ein Gedanke, der in seiner Lage nur zu berechtigt war. Wie, wenn man ihn nun beschuldigte, dieses Verbrechen begangen zu haben, ihn, der mit dem Toten verfeindet war? Hatte ihm doch der Hausmeister, der ihm die Haustür öffnete, gesagt, daß er der erste Besucher an diesem Tage sei – der erste Besucher! Also war niemand vor ihm bei meinem Vater gewesen! Mußte da nicht notwendig der Verdacht auf ihn fallen? Schon sah Boto sich verhaftet, schon sah er die ganze Pein einer langen Untersuchungshaft vor sich … Konnte er wissen, ob die Wahrheit je an den Tag kommen würde? Durfte er sich der Gefahr aussetzen, womöglich das Opfer eines Justizirrtums zu werden? – Gegenüber all diesen Bedenken tat er schließlich das, was ich nur voll und ganz billigen kann – er floh! – Ist das Rätsel dieses Verbrechens erst gelöst, so wird er wieder auftauchen, früher nicht.«
Die junge Frau schwieg.
»Und mehr hätten Sie mir nicht zu sagen?« meinte Schaper nachdenklich.
Sie schüttelte den Kopf. »Würde ich Ihnen auch den Rest des Inhalts der mir zugegangenen Nachricht mitteilen, brächte ich Sie vielleicht in Ungelegenheiten. Sie könnten möglicherweise von der Polizei als Zeuge vernommen werden und dürften dann nicht lügen. Besser, ich behalte das andere für mich, wie ja auch Boto es wünscht. –
Außerdem, Herr Schaper – es handelt sich nur noch um Dinge, die die Entdeckung des Mörders, des wahren Mörders niemals herbeiführen könnten,« setzte sie noch hinzu.
»Ich bin ja auch sehr zufrieden mit dem, gnädiges Fräulein, was ich gehört habe – wirklich!« erklärte der Detektiv ehrlich. »Für mich ist die Hauptsache, daß ich nun eines jedenfalls sicher weiß: Wer der Mörder nicht ist! – Das ist schon sehr viel wert und erspart mir viel unnötige Arbeit.«
»Also sind auch Sie jetzt von meines Bräutigams Unschuld überzeugt?« fragte Anni Marschall freudig.
»Ja,« entgegnete Schaper einfach. »So recht geglaubt habe ich es ja nie, daß er der Täter sein könnte.«
»Und was hat Sie zu dieser Überzeugung gebracht?«
»Der Inhalt seiner Benachrichtigung. – Seine Befürchtungen, die ihn dazu bestimmten, sich verborgen zu halten, erscheinen mir vollkommen glaubwürdig. –
Schließlich – wäre Boto Wendland schuldig, so hätte er nie und nimmer gewagt, Ihnen nach Begehung der Tat noch irgendeine Nachricht zukommen zu lassen.«
»Wie zutreffend ihre Schlußfolgerungen sind,« meinte Anni Marschall bewundernd.
»Mein Geschäft,« winkte Schaper bescheiden ab. Um sofort den Faden wieder aufzunehmen: »Doch nun zum nächsten Punkt. – Was halten Sie von Hektor Brieux?«
»Wir sind uns herzlich gleichgültig. Im übrigen ist er etwas leicht veranlagt. – Weshalb fragen Sie aber nach ihm? Hegen Sie irgendeinen Verdacht gegen ihn?« Sie schaute ihren Gegenüber in ängstlicher Spannung an.
Schaper machte eine beruhigende Geste mit der Hand.
»Für diesen Kriminalfall scheidet er aus,« meinte er ernst. »Für diesen!! Dafür ist er aber in eine andere Angelegenheit verwickelt, die auch nicht ganz reinlich ist.« Und er erzählte mit allen Einzelheiten das Erlebnis des Rechtsanwalts Heiling und die Beobachtungen, die Werner Tompson noch an demselben Abend gemacht hatte.
Anni Marschall war ganz entsetzt. »Unmöglich, unmöglich!« stammelte sie. »Der Mann, der den Familiennamen meiner Mutter trägt, ein Einbrecher? Das kann nicht sein …«
»Warten wir ab. Sichere Beweise besitze ich ja noch nicht,« suchte Schaper die Bestürzte zu beruhigen. Und absichtlich lenkte er schnell auf ein anderes Thema über.
»Gnädiges Fräulein, was ich noch fragen wollte, hat Ihr Herr Vater ein Testament hinterlassen?«
»Ja, aber ein ungültiges. Ich war heute morgen bei dem langjährigen Rechtsbeistand meines Vaters, dem Justizrat Schellhorn und bat ihn, mich nach dem Hause in der Schloßstraße zu begleiten. Dort fanden wir im Schreibtisch eine letztwillige Verfügung, in der Papa mich auf den Pflichtteil gesetzt und den Rest seines Besitzes Hektor Brieux vermacht hat. Dieses Testament entspricht jedoch nach Ansicht des Justizrats, deren Richtigkeit kaum zu bezweifeln ist, nicht den gesetzlichen Anforderungen an ein eigenhändig geschriebenes Testament, da mein Vater in der Urkunde zwar sich als den Testierenden genannt, die Verfügung aber nicht unterzeichnet hat.«
»So, so. Also Hektor Brieux als Haupterbe! Der scheint ja dann das Erbschleichen recht gut verstanden zu haben,« meinte Schaper ironisch. »Nur gut, daß das nun nichts helfen wird,« beendete er etwas schadenfroh seine bissige Bemerkung.
Es entstand eine kleine Pause. Anni Marschall strich unruhig mit ihrer zarten Hand über die Falten des schwarzen Kleides hin. Sie schien noch irgend etwas auf dem Herzen zu haben. Und dann sagte sie mit leichter Verlegenheit:
»Herr Schaper, damit Sie mich nicht falsch beurteilen und für herzlos halten, möchte ich Ihnen erklären, in welchem Verhältnis ich zu meinem Vater stand. Heucheln ist mir zuwider. Ich vermag daher auch nicht nach diesem furchtbaren Ereignis ein Benehmen an den Tag zu legen, wie es sich vielleicht für mich als die Tochter des Ermordeten ziemen würde. Mein Vater ist mir längst, längst fremd geworden … Und wenn ich daran denke, wie er meine arme, gütige Mutter …«
Tränen, die ersten, die sie in dieser Stunde vergoß, erstickten ihre Stimme.
Schaper wartete zartfühlend, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann sagte er weich:
»Lassen Sie diese Erinnerungen ruhen, gnädiges Fräulein. Ich weiß ziemlich gut Bescheid mit Ihrer Familiengeschichte, kenne all das Trübe, das Sie durchgemacht haben. Die Zukunft wird Sie für diese schmerzlichen Zeiten an der Seite eines geliebten Mannes, dessen ehrlichen Namen rein und fleckenlos zu erhalten, jetzt unsere größte Sorge sein muß, entschädigen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Ich bin der Ansicht, daß dieser Mord nur im Innern des Hauses aufzuklären ist. Von außen kann der Mörder nicht eingedrungen sein. Das steht fest. Also suchen wir im Palais selbst. Und zu diesem Zweck möchte ich mich dort für einige Zeit einquartieren. Zum Beispiel unter der Maske eines Architekten, der den Baustil des altertümlichen Hauses studieren will. Die Familie Truschinski dürfte in dieser Hinsicht sehr leicht zu täuschen sein. Wenn Sie mir hierzu die Erlaubnis geben, kann kein Mensch etwas dagegen haben.«
Anni Marschall war sofort einverstanden. Und bald darauf verabschiedete sich Schaper, nachdem er mit ihr alles genau vereinbart hatte.
Wieder drückten sie sich zum Abschied kameradschaftlich die Hände. An der Flurtür aber flüsterte der Detektiv seiner Verbündeten noch leise zu:
»Falls Sie sich mit Boto Wendland irgendwo treffen wollen – seien Sie vorsichtig! Wenn die Polizei weiß, daß Sie mit ihm heimlich verlobt sind, werden Sie sicher beobachtet werden. Und – gegebenen Falles grüßen Sie ihn vielleicht von mir als den … ›Mann am Telephon‹.«
Dann eilte er die Treppe hinunter.
5. Kapitel
Zwei Tage waren seit den letzten Ereignissen verflossen. Fritz Schaper, der seit gestern in einer ihn völlig unkenntlich machenden Verkleidung unter dem Namen eines Architekten Müller aus Hamburg im Katzen-Palais weilte, wo er gerade die von dem Ermordeten benutzten Räume in der ersten Etage bewohnte, kam soeben von dem Begräbnis Gottfried Marschalls zurück und stieg langsam die Treppe zu seinem neuen Heim empor.
In dem Arbeitszimmer des Toten war alles so belassen worden wie vordem. Nur den blutbefleckten Perserteppich hatte man gegen einen anderen vertauscht. Der Detektiv entledigte sich seines Paletots und entnahm dann seinem auf einem Stuhl stehenden Koffer einen Handspiegel, um zu prüfen, ob sein falscher blonder Bart und die Perücke immer