Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
Sorgen der letzten Tage die frische Farbe aus den sonst so liebreizenden Zügen verdrängt. Um die dunklen Augen lagerten tiefe Schatten, und ein ungesundes Grau um den schöngezeichneten Mund ließ die kaum Vierundzwanzigjährige um ein Jahrzehnt gealtert erscheinen. Da beugte er sich über sie und drückte einen leisen Kuß auf ihre Stirn.
»Mut, Liebling! Dreßler ist ja auf allen Gebieten beschlagen, warum sollte er uns nicht auch in dieser Sache raten können!«
Der Privatgelehrte Dr. phil. Hans Dreßler bewohnte seit zwei Jahren Haustor Nr. 16 die erste Etage. – Erste Etage klingt recht großartig. Wer aber die schmalen Häuser da unten am Ende der Dämme kennt, weiß, daß die meisten Wohnungen dort nur aus zwei, höchstens drei mittelgroßen Zimmern bestehen. Dreßlers erste Etage bestand aus Küche, Nebengelaß, Entree und zwei Zimmern, gehörte also zu der bescheidensten Sorte jener Behausungen. Trotzdem fühlte sich der Besitzer dieser Räume in ihnen mehr als wohl. Allerdings in der letzten Zeit, seitdem sein Verkehr mit Wieland immer reger geworden war, wollte es ihn bisweilen doch nicht mehr so ganz in seinem Junggesellenheim gefallen. Oft genug hatte er es sich in einsamen Stunden ausgemalt, wie anders seine Häuslichkeit aussehen könnte, wenn – ja, wenn die blonde Anna Wieland als Hausfrau darin schalten würde. – Bei dem Gedanken war’s aber vorläufig geblieben. Denn dem Doktor, der sich mit seinen sechsunddreißig Jahren schon uralt vorkam, dünkte es beinahe ein Verbrechen, der kaum zwanzigjährigen Schwester des Freundes seine Zuneigung irgendwie zu zeigen. So war er denn jetzt schon ein langes Jahr bei Wielands ein- und ausgegangen, ohne daß er in seinen Zukunftsträumen über das erwähnte »Würde« irgendwie hinausgekommen wäre. Und sicherlich mußte schon etwas Besonderes geschehen, um Hans Dreßler aus der Rolle des guten Freundes, die er nur gezwungen spielte, in die eines aufrichtigen Liebhabers hineinzuzwingen. –
Des Doktors Studierzimmer lag nach der Straße zu und hatte zwei große Fenster, durch die dem Tageslicht freier Zutritt zu diesem mehr als merkwürdigen Raume gegeben war. Denn Dreßlers Studierzimmer war zugleich Laboratorium, Bibliothek und – Raritätenkabinett. Vor dem rechten Fenster stand ein langer Tisch, dessen einst weiße Platte jetzt von Säuren zerfressen und mit Brandflecken dicht bedeckt war. Auf diesem Tisch hatten Gestelle mit Gläsern und Flaschen in allen Größen und Formen ihren Platz neben blinkenden Destilierkolben und zwei großen Gaskochern. Die Gummischläuche der Gasleitung liefen darüber hin wie schmutziggraue Schlangen, und die freien Drahtenden der elektrischen Leitung lagen wie Schlingen zwischen diesem Durcheinander von Gläsern und sauber gehaltenen Apparaten, Mikroskopen, feinen Wagen und vielem anderen. Neben diesem Tische in einem mächtigen, rotgebeizten Schrank war Dreßlers Bibliothek untergebracht, besser gesagt diejenigen Bücher, die er notwendig brauchte. Denn der größere Teil seines papiernen Besitzes lagerte auf dem Boden in großen Kisten. In dem Schranke standen anscheinend in wirrem Durcheinander dünne Broschüren neben einer neuen Klassikerausgabe, dicke Lehrbücher der Chemie neben Büchern von dem Werte des »Seestern 1906«. Die andere Hälfte des Zimmers war sozusagen versuchsweise als Empfangszimmer herausstaffiert. An der Wand, dem Bücherschranke gegenüber, ragte ein Paneelsofa in die Luft, dessen Dimensionen sich in dem überfüllten Raum recht merkwürdig ausnahmen. Davor ein großer Tisch, bedeckt mit Zeitschriften und Zeichnungen, weiter zwei steiflehnige Sessel einer längst schlafengegangenen Mode. Und an den Wänden – ein Liebhaber exotischer Reiseerinnerungen hätte daran stundenlang besichtigen können! – auf Wandbrettern ausgestopfte Vögel, altchinesische Rüstungen, Waffen, Felle, Schlangenhäute, dazwischen hin und wieder ein grinsender Totenschädel neben einem in Spiritus aufbewahrten Präparat. Kurz und gut, weniger stilgerecht hätte selbst ein von keinerlei Kultur angekränkelter Hottentotte seine Hütte kaum herauszuputzen können. Und dabei lagerte über dem Ganzen dieser eigenartige Geruch, der uns in jeder Apotheke entgegenschlägt, dieses Gemisch von den Ausströmungen von Säuren, Arzneien, hier nur noch vermengt mit dem süßlichen Duft von Zigaretten, deren Stummel überall umhergestreut waren.
Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten war zurzeit nicht heimisch. Aber in dem Arbeitszimmer hantierte dafür ein anderes Wesen desto eifriger umher und versuchte auf der Hälfte »Empfangszimmer« etwas Ordnung herzustellen. Es war ein kleines, unscheinbares Weiblein mit faltigem, gelbem Gesicht, das jetzt gerade unter häufigem zornigen Knurren die Zigarettenasche von dem etwas fadenscheinigen Teppich fegte. Das Alter dieses dienstbaren Geistes festzustellen, wäre eine Aufgabe für einen großen Menschenkenner gewesen. Das Gesicht war das einer Sechzigjährigen, und dazu paßte auch der runde Rücken und der recht spärliche, in ein dünnes Zöpfchen geflochtene Haarwuchs. Doch an den sechzig Jahren wurde man sofort wieder irre, wenn man die flinken Bewegungen und das emsige Schaffen des Weibleins beobachtete. Mit großer Schnelligkeit gelang es ihr, der linken Zimmerseite ein einigermaßen würdiges Aussehen zu geben. Die Bücher und Zeitschriften wurden eiligst zusammengerafft und auf einen freien Stuhl am Fenster gelegt. So war wenigstens der Sofatisch frei. Dann wandelte sich der »Empfangssalon« in kürzester Zeit wie auf ein Zauberwort in ein Eßzimmer um: Den Sofatisch bedeckte ein schneeweißes Tischtuch, darauf lag ein Gedeck, standen Teller, eine Menage, eine angebrauchte Flasche Rotwein mit Glas, – alles zierlich verteilt und nett hergerichtet. Und während das Weiblein so mit Aufräumen beschäftigt war, mußte es recht häufig diese Arbeit unterbrechen und in die Küche eilen, wo ein junges Huhn, mit Speckscheiben belegt, lustig im Schmortopf brodelte.
Als Dr. Dreßler pünktlich wie immer zwei Minuten vor eins in die Straße mit dem merkwürdigen Namen »Haustor« einbog, nachdem er sich auf einem längeren Spaziergang durch den Steffenspark und die Große Allee von den Anstrengungen der Vormittagsarbeit erholt hatte, sah er schon von weitem vor seinem Hause den Inhaber des Parterre-Ladens stehen. Als er sich jetzt näherte, kam ihm Jakob Wenzel eilfertig entgegengetrippelt und, sein schwarzes Samtkäppchen ziehend, sagte er vertraulich:
»Morgen, Herr Doktor! – Jetzt hab’ ich sie!« Und dabei blinzelten seine kleinen pfiffigen Äuglein in eitel Triumph. – Dreßler hatte ihm die Hand geschüttelt und fragte sofort:
»Wirklich?! – Dann zeigen Sie –« Da unterbrach er sich. In der Ferne schlug eine Turmuhr hallend eins. Der Doktor schüttelte bedauernd den Kopf.
»Also nach Tisch komm’ ich sofort zu Ihnen herunter. Jetzt geht es nicht. Ich darf meine Kascha nicht warten lassen!« – Und Jakob Wenzel kurz zunickend, verschwand er schnell in der Haustür.
2. Kapitel
Zu Doktor Dreßlers etwas philisterhaften Gewohnheiten gehörte auch der tägliche Nachmittagsschlaf. Daß er heute, nachdem Kascha nur noch die traurigen Knochenreste des Brathuhnes hinausgetragen hatte, nicht sofort den in seinem Schlafzimmer stehenden Diwan aufsuchte, daran waren eigentlich Wielands schuld. Vormittags auf dem Spaziergang war er die Gedanken an die Familie seines Freundes nicht losgeworden. Gedanken, die sich um die seit Tagen im Wielandschen Hause deutlich bemerkbare allgemeine Verstimmung drehten. Und wenn er auch auf dem Heimwege dann an anderes dachte, an seine neuesten chemischen Versuche und an den Auftrag, den er Jakob Wenzel gegeben hatte, so drängte sich die Sorge um das Wohlergehen der ihm so nahestehenden Menschen doch immer wieder in den Kreis seiner Betrachtungen ein. Und dasselbe teilnehmende Interesse hielt auch Dreßler jetzt nach Tisch in seinem Arbeitszimmer fest.
Er hatte es sich bequem gemacht, einen leichten Hausrock angezogen und die braunen Schnürschuhe mit leichten Morgenschuhen vertauscht. So ging er geräuschlos in dem mit so wenig Geschmack eingerichteten Raume auf und ab, qualmte dichte Wolken aus seiner Zigarette in die Luft und versuchte irgend eine Erklärung für diese merkwürdige Änderung in dem Verhalten seiner Bekannten herauszuklügeln – vergebens. Er fand auch nicht den geringsten Anhalt für irgend eine Vermutung. Schließlich warf er verdrossen den Zigarettenstummel in den nächsten Aschbecher und zündete mit einem Streichholz eine der auf dem Holztisch am Fenster stehenden offenen Gasflammen an. Aber selbst die Arbeit brachte ihm nicht die gewünschte Ablenkung. Denn während er jetzt ein Retortengläschen über der leise zischenden Flamme hin und her drehte und beobachtete, wie die grünen Kristalle langsam darin zerschmolzen, überlegte er nochmals die Vorfälle der letzten drei Tage. Man hatte ihm am Dienstag abend bei Wielands erzählt, daß der Vater der jungen