Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
1. Kapitel
Man kann nicht gerade behaupten, daß die vor ungefähr zwei Jahren in der Zeit um Mitte Mai erfolgte Aufdeckung des Geheimnisses der Ginsterschlucht zu den Sensationsfällen der Kriminalstatistik gehört. Die Zeitungen erwähnten damals dieses Ereignis nur in einer kurzen Notiz und die große Masse des Publikums hatte ja auch in jenen Tagen weit größeres Interesse für die Vorgänge auf dem politischen Theater. Allerdings wäre wohl auch der aufdringlichste Reporter nicht imstande gewesen, seinem Blatt von den Ereignissen, die den überraschenden Entdeckungen an jenem Maitag vorausgingen, einen auch nur einigermaßen wahrheitsgetreuen Bericht zu liefern. Denn so gern die Behörden seinerzeit erbötig waren, der Presse, selbst wenn sie auch nur dem Sensationsbedürfnis ihrer Leser entgegenkommen wollte, über wichtigere Geschehnisse genauen Aufschluß zu geben, so sehr vermeiden sie es jetzt, wenn man so sagen darf, – in ihre Karten sich sehen zu lassen. Nur zu oft hat gerade die Polizei in den Zeitungen heimliche Gegner gefunden, Gegner, die das Vertrauen der Staatsbürger zu den Maßnahmen ihrer Organe durch eine scharfe und leider nur zu oft ungerechte Kritik erschütterte. So wurden auch in dem Fall des ›Geheimnisses der Ginsterschlucht‹ der durch drei größere Tagesblätter vertretene Presse der Provinzialhauptstadt X. mit wenigen, nur die ins Publikum gedrungenen Tatsachen angehenden Worten, abgespeist, nachdem dieselben Zeitungen beinahe täglich kurz vor dem endlichen Erfolg der Polizei über deren Unfähigkeit mehr oder minder breit sich ausgelassen hatten.
Vielen ist so ein interessanter Beitrag zur Lehre von der Entwicklung des jugendlichen Charakters entgangen. Die Erlebnisse Heinrich Seilers, wie sie nachstehend in Romanform wiedergegeben werden, sind ein sicherer Beweis für die Wandelbarkeit der kindlichen Seele, für den schnellen Umschlag im kindlichen Denken und Handeln unter dem Druck besonderer Ereignisse. –
Die folgende Schilderung schließt sich eng an die eingehenden Berichte des Kriminalbeamten Jakob Fischer und seines Schützlings an. – – –
* * *
Heinrich Seiler wartete schon gut eine Stunde vor der Tür der Kneipe auf seinen Vater. Hin und wieder hatte er es gewagt, seinen struppigen Kopf, auf dem ein grüner, verschossener Filzhut saß, durch einen Spalt der Tür in den dunsterfüllten Raum hineinzustecken, aus dem lautes Stimmengewirr hervortönte. Dicht gedrängt umstanden die Arbeiter den Schenktisch, vor sich in den dickwandigen Gläsern den entnervenden Schnaps, der sie einmal in jeder Woche, am Tage der Lohnzahlung, ihr stets gleichbleibendes Dasein vergessen machen sollte. –
Heinrich Seiler wußte, daß sein Vater sich in der Kneipe befand. Daher wartete er mit jener gleichgültigen Ruhe, die er allen Vorfällen in seinem freudlosen Dasein entgegenbrachte, weiter an der Straßenecke, ging vor den beiden Schaufenstern des Lokals auf und ab und fror … fror. Der Frühjahrswind fuhr durch die Löcher seiner kurzen Jacke, seiner Hose, seiner Stiefel. Dieser Stiefel, die nie ein Paar gewesen sein konnten. Denn der rechte, ein Schaftstiefel von ziemlicher Größe, entstammte einem Kehrichthaufen, der unlängst nach einem Umzug in dem Hausflur eines der feinen Häuser in der Hauptstraße gelegen hatte. Der linke Stiefel dagegen war das Geschenk von Heinrichs Flurnachbar, dem Flickschuster Albrecht, der diesen etwas stark mitgenommenen Damenzugstiefel unter seinem geringen Ledervorrat auf dem Boden gefunden und zur Ergänzung des derberen rechten Bruders hergegeben hatte.
Bisweilen warf Heinrich im Vorübergehen einen prüfenden Blick in den Schaufensterspiegel und betrachtete sein Äußeres, das keineswegs vertrauenerweckend wirkte. Besonders die funkelnden, gar nicht mehr knabenhaften Augen über der rotgefrorenen Nase erregten immer wieder des Jungen Interesse. Wenn er schließlich das Gefühl der Eitelkeit auch nicht kannte, so sagte er sich doch, daß er zwar nicht wie einer von den Zierbengeln der feinen Leute, aber dafür desto unternehmungslustiger und frecher aussah. Und als Heinrich Seiler jetzt wieder dicht an die Scheibe des Schaufensters gedrückt dastand, da kämmte er sich plötzlich mit seinen Fingern das wirre Haar noch tiefer unter der Hutkrempe in das Gesicht – so, wie er’s bei den oft angestaunten Burschen aus dem Nachbarhaus gesehen hatte, die das reichlich eingefettete Haar in breiter Locke in die Stirn hineingekämmt trugen. –
Während der Junge so angestrengt mit der Vervollkommnung seines äußeren Menschen beschäftigt war, hatte sich ihm leise eine in ein großes Umschlagtuch gehüllte Frau genähert, in deren vergrämten Zügen noch jetzt die feinen Linien einstiger Schönheit erkennbar waren. Die Frau trat hinter Heinrich und schaute eine Weile stumm dem Treiben des Jungen zu. Dann faßte sie ihn unsanft bei der Schulter. Heinrich fuhr herum. Ihm blieb vor Schreck der Mund offen stehen.
»Mutter – du …?«
»Infamer Bengel … hier stehst du und spiegelst dich! Und ich warte auf Vater, und die Pellkartoffeln sind schon ganz kalt geworden!« –
Ritscht, ratsch, hatte Heinrich ein paar gediegene Maulschellen versetzt bekommen. Aber merkwürdigerweise schien ihn das weiter nicht zu rühren. Vielmehr sagte er ohne die geringste Erregung:
»Mutter, ich kriege Vater da nicht raus.« Dabei wies er mit seiner krebsroten Hand auf die Tür der Destille.
»Nicht raus … Na warte!« –
Damit war die Frau auch schon in der Kneipe verschwunden.
Gleichmütig drehte Heinrich sich wieder dem Spiegel zu und setzte sich seinen durch die Ohrfeigen stark beunruhigten Hut wieder gerade. Dann lehnte er sich gegen die Hauswand, schlug ein Bein über das andere und pfiff leise durch die Zähne.
›Heute gibt’s zu Hause wieder Prügel,‹ überlegte er sachkundig. ›Sicher ist Vater schon sehr betrunken, sonst würde er mehr Skandal machen …‹
Da wurde es plötzlich in der Destille lebendig. Man hörte selbst draußen eine keifende Weiberstimme und dazwischen den dröhnenden Baß eines Mannes. Hin und wieder erhob sich tobendes Gelächter.
Heinrich nickte nur verständnisinnig. Er kannte diese Szenen seit Jahren. Sie wiederholten sich jeden Sonnabend, solange er zurückdenken konnte, ebenso wie ihn auch die Mutter jeden Sonnabend vergeblich ausschickte, damit er den Vater heimholen sollte. Zuerst hatte er’s ja versucht. Da war er mutig in die Destille gegangen, obwohl es ihn vor dem Schnapsgeruch darin ekelte, und hatte den Vater am Ärmel gezupft und seinen Auftrag ausgerichtet. Aber … die Prügel, die er dafür an Ort und Stelle gleich bei dem ersten Versuch erhielt, vergaß er nie. Und nun blieb er, durch Schaden klug gemacht, immer hübsch draußen, außer Bereich der väterlichen Hände, stehen.
Heinrich pfiff weiter, den neuesten Gassenhauer; zwar falsch, aber ihn freute es doch. Da flog plötzlich die Tür auf, und heraus torkelte ein riesenlanger Kerl, dem die Frau mit dem Umschlagtuch folgte. –
Heinrich wußte sofort, was er zu tun hatte. Er faßte den Betrunkenen unter dem einen, die Mutter unter dem anderen Arm und dann bog der Zug unter vorsichtigem Lavieren in die enge Seitenstraße ein, die in das Arbeiterviertel der Vorstadt führte. Der Trunkene schimpfte, auch drohte er des öfteren umzusinken. Aber Frau und Kind stützten ihn und so ging’s langsam durch die immer enger und schmutziger werdenden Straßen dem kleinen Häuschen zu, in dem der Werftarbeiter Friedrich Seiler wohnte.
Eine Stunde später war der nächste Akt des Sonnabendprogramms für die unglückliche Familie Seiler auch erledigt. Nachdem der Betrunkene in der einzigen Stube noch furchtbar gelärmt, erst seine Frau und dann den Jungen geschlagen hatte, war er mit Heißhunger über die kalten Kartoffeln und den Hering hergefallen. Als Heinrich dies sah, faltete er die Hände in Dankbarkeit. Er wußte,