Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
mochten in der Brust Heinrichs auch alle wärmeren Empfindungen für den Vater erstickt sein, seine Mutter liebte er auf seine Weise, obwohl auch sie ihn oft mit groben Scheltworten zurechtwies und ihn noch öfters prügelte. Aber in seinem Kinderherzen lebte eine Art Hochachtung für diese Frau, die so geduldig die Last ihres Ehelebens dahinschleppte, sich die Finger blutig wusch, damit nur die Ihren satt wurden …
Dann las er nochmals jenen Artikel in der Zeitung durch, der von dem Einbruch handelte. – Wie leicht doch das eigentlich war, so zweitausend Mark zu erbeuten … Nachschlüssel, ein in die Tür gesägtes Loch … Dann hatte man das Gold … Seine Phantasie erhitzte sich immer mehr in dem Gedanken an ähnliche Taten. Er überlegte und grübelte, spann Pläne und verwarf sie wieder … So wurde es Abend … Der Vater, der bisher geschlafen hatte, stöhnte plötzlich laut auf. Da erinnerte sich Heinrich daran, daß es Zeit war, dem Kranken die Arznei zu reichen. –
Noch eine Stunde verging. Dann kam die Mutter, zündete die Lampe an und verschwand sofort in der Küche, um dem Mann eine leichte Suppe zu kochen. Heinrich erhielt ein paar Schnitten Brot und ein Ende Wurst dazu. Als Frau Seiler die kleine Wirtschaft in Ordnung gebracht hatte, setzte sie sich in die Stube an den weißgescheuerten Tisch und begann Strümpfe zu stopfen.
»Mutter,« sagte da Heinrich bescheiden, »kann ich noch hinaus, ich habe den ganzen Tag in der Stube gesessen …«
Die verhärmte Frau nickte nur. Und leise schlich sich der Junge davon. Als er vor die Tür trat, holte er erst einmal tief, tief Atem. Sein Kopf war ihm ordentlich benommen von der Stubenluft. Dann ging er um das Häuschen herum und schaute zu dem Fenster des Flickschusters Albrecht empor. Dort brannte Licht. Aber obwohl er mehrere Male gellend pfiff, seine Freunde blieben auch heute unsichtbar. Da ging er langsam über den Hof an dem Stall vorbei und setzte sich auf sein Lieblingsplätzchen, das alte Brunnenrohr.
Hier saß er dann und schaute über die Felder hinweg in die Abendröte, die mit rosigem Schein den Horizont vor ihm umspielte. –
Das Stubenhocken diese eine Woche lang hatte Heinrich Seiler seltsam verändert. Er, der das Gefühl der Vereinsamung nie gekannt hatte, er war heute weich gestimmt, beinahe traurig. Und da er es selbst merkte, grübelte er plötzlich über die Ursache dieses Mißbehagens nach. –
Er hatte sich ein Stückchen Holz aufgehoben und schnitzelte nun mit seinem Taschenmesser daran. So verging die Zeit. Er saß jetzt fast bewegungslos da und fühlte, daß er müde wurde. Die Hände ruhten auf seinen Knien, er war zusammengesunken und hob sich in seinem braunen Kittel von der Umgegend fast gar nicht ab.
Die Uhr der Vorstadtkirche schlug die neunte Stunde. Heinrich Seiler wollte gerade herzhaft gähnen, als er plötzlich vor sich ein leises Geräusch hörte. Als er, aus seinem Halbschlaf aufschreckend, genauer hinsah, bemerkte er eine Gestalt, die vorsichtig auf ihn zuschlich. Sie kam näher und näher … Er saß da wie gebannt, nicht aus Furcht, sondern mehr aus Neugier. Wer konnte es sein, der jetzt hier sein Wesen trieb, so geheimnisvoll, fast lautlos sich nahte? Erst hatte Heinrich blitzschnell an einen der Söhne Albrechts gedacht. Aber warum sollten die hier herumkriechen?! Nein – aber – ein Dieb?! Das schoß ihm durch den Kopf!
Er wartete ab. Jetzt konnte er die Gestalt schon deutlicher sehen; es war ein Mann, nicht allzugroß, der sich jetzt dicht an Heinrich vorbei auf den Hof schleichen wollte. Und da … da … ja, sah er den recht … da hinter dieser ersten erblickte er jetzt in verschwommenen Umrissen eine zweite Figur, in der Dunkelheit nur als schwarzer, vorwärtsstrebender Fleck bemerkbar, eine Figur, die ebenso lautlos näherkam. Und nun … nun hörte er ein lautes »Halt!«. Der Platz vor ihm belebte sich, er sprang auf, wurde aber sofort von hinten gepackt und niedergerissen … Verzweifelt schrie er um Hilfe, schlug um sich …
Eine harte, behandschuhte Hand preßte sich mit festem Druck auf seinen Mund. Noch ein paar gurgelnde Laute, dann lag er still, ergab sich in sein Schicksal. Bebend vor Angst hatte er die Augen geschlossen; jetzt fühlte er etwas Kaltes sich um seine Handgelenke winden, wurde hochgehoben und vorwärtsgestoßen. Er hörte flüsternde Stimmen um sich …
Langsam erst kehrte ihm die Überlegung zurück. Er wagte jetzt auch die Augen zu öffnen …
Neben ihm ging ein Mann, der das Ende einer Kette in einer Hand hielt; die Kette selbst aber war um Heinrich Seilers Handgelenke geschlungen. Der Mann und er gingen über die Felder, schnellen Schrittes, jetzt bogen sie zwischen zwei vorgeschobenen Gehöften in eine Straße ein.
Immer klarer wurden die Gedanken des Jungen. Wie ein Traum erschienen ihm diese letzten Minuten … Und nun, nun stieg etwas wie eine trotzige Wut in ihm auf. Die Angst war vorüber, sie gingen jetzt durch belebtere Straßen, sie beide dicht aneinander. Und da wagte er zum ersten Mal aufzusehen und seinem Führer ins Gesicht zu schauen. Sie schritten gerade an einer Gaslaterne vorüber …
Der Mann, der Heinrich Seiler an der Kette zur Polizeiwache der Vorstadt führte, war klein und dick, trug eine Brille und hatte einen dünnen, blonden Schnurrbart. Er sah aus wie ein Schulmeisterlein vom Lande.
Dann passierten sie einen Torweg, stiegen ein paar Stufen empor, eine Tür öffnete sich … Sie waren in der Wachtstube angelangt. –
Jakob Fischer, der Kriminalbeamte, ließ hier seinen Gefangenen los. Schutzleute in grauen Jacken, einige in halboffenen Waffenröcken drängten sich um Heinrich Seiler. Und dann lachte einer von diesen laut auf und rief mit tiefer Baßstimme:
»Nanu, Fischer, was hast du denn da aufgeangelt? Soll das der berühmte ›Schusterkarl‹ sein?«
Doch Fischer schien zum Reden nicht aufgelegt. Er deutete den anderen mit einer Handbewegung, zu schweigen und führte seinen Gefangenen schnell in das anstoßende Zimmer. Die Tür fiel ins Schloß und sie waren allein.
»So, nun komm doch einmal ans Licht,« meinte Fischer gemütlich und beschaute sich das Bürschchen genauer. Dann begann er ihn auszufragen. Aber schon nach wenigen Minuten hatte er sich überzeugt, daß … ja, daß sie den Unrechten ergriffen hatten.
»Hm, du hast also da hinter dem Stall auf der Brunnenröhre gesessen und …« – Nochmals fragte der Beamte Heinrich Seiler nach allen Einzelheiten. Aber der Junge verwickelte sich weder in Widersprüche, noch war er besonders ängstlich. Und die Geschichte von dem kranken Vater – nein, die konnte der Bengel nicht so glatt erfunden haben. Also … und über dieses ›also‹ krauste Jakob Fischer die Stirn …
Die Tür öffnete sich und herein trat hastig und ungeduldig der Kriminalkommissar Kern. Der Beamte nahm ihn sofort beiseite und teilte ihm mit, was er aus Heinrich Seiler herausbekommen hatte. Dann begann Kern selbst den Jungen auszufragen. Aber bald fing er an in dem nicht allzugroßen Zimmer auf und ab zu laufen, anscheinend unzufrieden mit sich und der ganzen Welt.
»Dachte ich’s mir doch,« brummte er vor sich hin, »der Kerl ist uns entschlüpft, – alles verloren – weiß jetzt, daß wir hinter ihm her sind …«
Das Abenteuer endigte für Heinrich damit, daß der eine von den beiden Herren, die ihn so genau ausgefragt hatten, ihm eine Mark gab und ihn nach Hause schickte. Nur das eine mußte er noch versprechen, nichts zu erzählen – nichts – niemand!
Aber Frau Seiler erfuhr die Geschichte noch an demselben Abend. Atemlos berichtete der Junge von der Kette, der kalten Kette, von dem Herrn mit der Brille und dann … dann gab er freudestrahlend die Mark heraus, reichte sie der Mutter hin und sagte: »Dafür können sie mich jeden Abend einsperren …« Und die Mutter schüttelte nur den Kopf. Aber froh war sie doch. Eine Mark … ein gutes Mittagessen …! Nur daran dachte sie; und Heinrich ebenso …
5. Kapitel
Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, das durch die so sonderbar verdiente Mark zu einem wirklichen Sonntagsessen ausgestaltet war, machte sich Heinrich mit Erlaubnis seiner Mutter zu einem längeren Spaziergang auf. So erzählte er wenigstens daheim; in Wirklichkeit hatte er aber andere Absichten. Da es auch