Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
in der müden Haltung eines Landstreichers, der weiter, immer weiter geht, gleichgültig gegen Regen oder Sonnenschein, abgestumpft gegen den Anblick von Himmel und Erde. Hauptinspektor Heat wiederum trat, nachdem er dem anderen eine Weile nachgesehen hatte, mit der geschäftigen Eile eines Menschen heraus, der zwar auch die Unbill der Witterung mißachtet, aber sich doch seines Auftrags auf dieser Welt und des sittlichen Rückhalts an seinen Artgenossen bewußt ist. Alle Bewohner der ungeheuren Stadt, die Bevölkerung des ganzen Landes und sogar noch die ungezählten Millionen, die überhaupt auf dem Planeten wimmelten, waren auf seiner Seite – bis hinunter zu den Dieben und Bettlern. Ja, sogar auf die Diebe konnte er bei seiner jetzigen Arbeit zählen. Dieses Bewußtsein allgemeinen Rückhalts für seine Tätigkeit stärkte ihm den Mut für den schweren Einzelfall.
Die Frage, die den Hauptinspektor zunächst beschäftigte, war die, wie er dem Kommissar, seinem Abteilungsvorstand, begegnen sollte. Das ist die Frage, die jahraus, jahrein gerade die treuen und gewissenhaften Angestellten beschäftigt. Hier gab der Anarchismus nur die besondere Färbung dazu, nicht mehr. Die Wahrheit zu sagen, hielt Hauptinspektor Heat nicht viel vom Anarchismus. Er maß ihm keine übertriebene Wichtigkeit bei und konnte sich nie dazu bringen, ihn ernst zu nehmen. Ihm schien er mehr grober Unfug; Unfug, ohne den menschlichen Milderungsgrund der Trunkenheit, die ja auch noch eine gewisse gute Stimmung und eine Neigung zu Festlichkeiten voraussetzt. Als Verbrecher waren die Anarchisten ausgesprochen ohne Klasse, ganz ohne Klasse; im Gedanken an den Professor murmelte Inspektor Heat, ohne aus seinem weit ausgreifenden Schritt zu fallen, durch die Zähne:
»Narr!«
Diebe zu fangen, war doch eine ganz andere Sache. Das war ein Sport, ganz so ernst wie jeder andere, wobei unter völlig verständlichen Regeln der beste Mann gewinnt. Für den Verkehr mit Anarchisten gab es keine Regel, und das stieß den Inspektor ab. Es war lauter Narretei, die aber die Öffentlichkeit aufregte, vor Männern in hohen Stellungen nicht Halt machte und sogar noch zwischenstaatliche Beziehungen berührte. Des Inspektors Züge nahmen beim Weiterschreiten den Ausdruck harter, unbarmherziger Verachtung an. Er überflog im Geiste die Schar der ihm unterstellten Anarchisten. Nicht einer davon hatte auch nur annähernd die Tatkraft dieses oder jenes Einbrechers, den er gekannt hatte. Nicht die Hälfte – nicht ein Zehntel.
Im Hauptquartier wurde der Inspektor sofort in das Bureau des Kommissars geführt. Er fand ihn mit der Feder in der Hand über einen großen, mit Papieren übersäten Tisch gebeugt, als wollte er das ungeheure doppelte Tintenfaß aus Bronze und Kristall anbeten. Sprachrohre waren wie Schlangen mit den Köpfen an die Rücklehne des großen Armstuhls gebunden, und ihre klaffenden Mäuler schienen bereit, den Kommissar in die Ellenbogen zu beißen. In dieser Stellung erhob er nur die Augen, deren Lider dunkler waren als sein Gesicht, und ganz verrunzelt. Die Meldungen seien eingelaufen: über jeden einzelnen Anarchisten sei genau Rechenschaft abgelegt worden.
Nach diesen Worten senkte er die Augen, unterzeichnete rasch zwei Aktenbogen, legte dann die Feder nieder, setzte sich zurück und sah seinen bestbekannten Untergebenen forschend an. Der Inspektor hielt den Blick ehrerbietig, doch ohne Verwirrung aus.
»Ich glaube,« begann der Kommissar, »daß Sie doch recht hatten mit Ihrer ersten Behauptung, die Londoner Anarchisten hätten mit der Sache nichts zu tun. Ich erkenne ohne weiteres an, wie vorzüglich der Überwachungsdienst arbeitet. Andererseits stellt Ihre Behauptung für die Öffentlichkeit nichts weiter dar, als das Eingeständnis völliger Unwissenheit.«
Der Kommissar sprach leise, wie tastend. Er schien in Gedanken auf jedem Wort zu verweilen, bevor er zum nächsten überging, als wären die Worte die Stufen der Treppe, auf der sein Verstand sich aus den Wassern des Irrtums emporarbeitete. »Außer etwa Sie hätten etwas Wichtiges aus Greenwich gebracht?« fügte er hinzu.
Der Hauptinspektor begann sofort mit einem streng sachlichen Bericht über seine Untersuchung. Sein Vorgesetzter drehte den Stuhl ein wenig, kreuzte seine dünnen Beine und stützte sich seitwärts auf einen Ellenbogen, indem er die Augen mit einer Hand bedeckte. Seine Lauscherstellung entbehrte nicht einer gewissen eckigen, bekümmerten Anmut. Sein ebenholzschwarzes Haar zeigte an den Schläfen einen Glanz wie von oxydiertem Silber, als er schließlich den Kopf neigte.
Inspektor Heat wartete stumm, und es sah aus, als überdächte er das Gesagte noch einmal, hielte es aber für unangebracht, mehr zu sagen. Der Kommissar unterbrach sein Zögern mit der Frage:
»Sie glauben, daß es zwei Männer waren?«
Der Inspektor hielt das für mehr als wahrscheinlich. Seiner Meinung nach hatten sich die beiden Männer etwa hundert Meter vor dem Observatorium getrennt. Er erklärte auch, wie der andere Mann aus dem Park entflohen sein konnte, ohne beachtet zu werden. Der Nebel hatte ihm geholfen, obwohl er nicht allzu dicht war. Scheinbar hatte er den anderen Mann bis an Ort und Stelle geführt und ihn dann verlassen, um die Tat allein zu vollbringen. Hielt man gegeneinander, wann die alte Frau die beiden aus Maze Hill Station kommen gesehen hatte und wann der Knall gehört worden war, so glaubte der Inspektor annehmen zu können, daß der zweite Mann Greenwich Park Station und den nächsten Zug zur Stadt erreicht haben konnte, als sein Genosse gerade in Stücke flog.
»Richtig in Stücke, wie?« murmelte der Kommissar unter der schirmenden Hand hervor.
Der Inspektor beschrieb in wenigen kräftigen Worten den Anblick der Überbleibsel. »Der Leichenbeschauer wird’s nicht leicht haben«, fügte er grimmig hinzu.
Der Kommissar gab seine Augen frei. »Wir werden ihn gar nicht kommen lassen«, meinte er langsam.
Er sah auf und beobachtete geraume Zeit die betont verschlossene Haltung seines Inspektors. Er war im allgemeinen nicht geneigt, sich Illusionen zu machen, und wußte gut, daß eine Abteilung auf die Gnade ihrer Untergebenen angewiesen ist, die ihren eigenen Begriff von Diensteifer haben. Er hatte seine Laufbahn in einer tropischen Kolonie begonnen. Die Arbeit dort hatte ihm Freude gemacht. Es war Polizeiarbeit gewesen. Er hatte mit großem Erfolg gewisse gefährliche geheime Gesellschaften unter den Eingeborenen aufgespürt und unschädlich gemacht. Dann hatte er großen Heimatsurlaub genommen und sich etwas überstürzt verheiratet. Rein äußerlich betrachtet war es eine gute Verbindung, nur bildete sich seine Frau vom Hörensagen eine ungünstige Meinung von dem kolonialen Klima. Andererseits hatte sie einflußreiche Beziehungen. Es war eine ausgezeichnete Verbindung. Die Arbeit aber, die er nun zu tun hatte, machte ihm keine Freude. Er fühlte sich von zu vielen Untergebenen und von zu vielen Vorgesetzten abhängig. Die nahe Gegenwart des eigenartigen Gefühlsmomentes, das man die öffentliche Meinung nennt, drückte auf sein Gemüt und beunruhigte ihn durch seine Unberechenbarkeit. Zweifellos übertrieb er aus Unkenntnis die Tragweite dieses Momentes im Guten wie ihm Bösen – besonders im Bösen; und die rauhen Ostwinde des englischen Frühlings (die seiner Frau so zusagten) vermehrten sein allgemeines Mißtrauen gegen die menschlichen Beweggründe und gegen die Wirksamkeit menschlicher Einrichtungen. Ganz besonders erschien ihm die Bureauarbeit durchaus nichtig, in diesen Tagen, die ihn fortwährend an seine empfindliche Leber gemahnten.
Er stand langsam auf, indem er sich zu seiner vollen Höhe entfaltete, und trat mit einem Schritt, dessen Wucht an dem schlanken Mann verwunderlich schien, zum Fenster hin. An den Scheiben rann der Regen nieder, und die kurze Straße, in die er hinuntersah, lag naß und leer, wie von einer plötzlichen Flut reingespült. Es war ein böser Tag, der mit rauhem Nebel begonnen hatte und nun mit kaltem Regen endete. Die kümmerlichen Gasflammen flackerten im Wasserdunst. Und jede Auflehnung eines bedrückten Menschenkindes gegen das elende Wetter erschien hoffnungslos überheblich und aller Verachtung und erstaunten Mitleids wert.
»Schrecklich, schrecklich!« dachte der Kommissar, während er die Stirne gegen die Scheiben drückte. »Jetzt haben wir diese Bescherung schon seit zehn Tagen. Nein, seit vierzehn – vierzehn Tagen.« Er blieb eine Zeitlang völlig gedankenlos. Die gänzliche Leere in seinem Hirn hielt etwa drei Sekunden an. Dann warf er nachlässig hin: »Haben Sie nach diesem zweiten Mann umfassende Nachforschungen eingeleitet?«
Er zweifelte nicht, daß alles Erforderliche geschehen war. Inspektor Heat beherrschte die Kunst der Menschenjagd von Grund auf, und überdies handelte es sich hier um herkömmliche Schritte, die ohne weiters von jedem Anfänger getan worden wären. Einige Nachfragen unter Fahrkartensammlern und