Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
mußte sofort ergeben, woher sie an jenem Morgen gekommen waren. Das alles lag so klar auf der Hand, daß es bestimmt nicht versäumt worden war. Ganz wie erwartet, bekundete der Inspektor auch, daß all dies sofort veranlaßt worden war, nachdem die alte Frau ihre Aussage gemacht hatte. Er nannte den Namen einer Station. »Daher sind sie gekommen, Herr«, fuhr er fort. »Der Beamte an der Sperre, der in Maze Hill die Fahrkarten abnahm, erinnerte sich an zwei Burschen, auf die die Beschreibung paßte. Er hielt sie für zwei bessere Handwerker, Schildermaler oder Anstreicher. Der große Mann stieg nach rückwärts aus einem Abteil dritter Klasse aus, mit einer großen Blechkanne in der Hand. Auf dem Bahnsteig gab er sie einem blonden Jungen zu tragen, der hinter ihm dreinkam. All dies stimmt genau mit dem überein, was die alte Frau dem Schutzmann in Greenwich angab.«
Der Kommissar, der immer noch aus dem Fenster hinaussah, drückte Zweifel darüber aus, daß diese beiden Männer irgend etwas mit dem Anschlag zu tun haben sollten. Die ganze Annahme war auf den Aussagen eines alten Hökerweibes aufgebaut, das von einem davonstürzenden Mann fast umgerannt worden war. Die Quelle war nicht besonders vertrauenswürdig, wenn man nicht an plötzliche Erleuchtung glauben wollte, was doch auch schwer denkbar schien.
»Ganz ehrlich – glauben Sie an eine Erleuchtung?« fragte er ironisch, immer mit dem Rücken zum Zimmer und wie verloren in die Betrachtung der unendlichen Stadt, deren Umrisse in der Dämmerung verschwammen. Er wandte nicht einmal den Kopf, als er hinter sich das Wort »Vorsehung« hörte, das sein erster Untergebener vor sich hinmurmelte, der Mann, dessen Name gelegentlich in den Tagesblättern erschien und dem großen Publikum vertraut war als der eines seiner eifrigsten und schwerstarbeitenden Beschützer. Inspektor Heat hob ein wenig die Stimme: »Ich konnte kleine Blechsplitter mit Bestimmtheit feststellen«, sagte er. »Das ist wohl eine starke Bekräftigung.«
»Und die Leute kamen von der kleinen Dorfstation«, grübelte der Kommissar halblaut vor sich hin. Man hatte ihm gesagt, daß der Name dieser Station auf zweien von den drei Fahrkarten gestanden war, die bei jenem Zug in Maze Hill abgegeben worden waren. Die dritte hatte einem Hausierer aus Gravesend gehört, der dem Beamten gut bekannt war. Der Inspektor machte diese Angabe in abschließendem Tone, mit ein wenig übler Laune, wie ergebene Diener sie gerne zeigen, im Bewußtsein ihrer Treue und des Wertes ihrer Dienstleistung. Und dennoch kehrte sich der Kommissar nicht ab von der Dunkelheit draußen, die endlos war wie die See.
»Zwei fremde Anarchisten aus dem kleinen Ort«, sagte er wie zu der Fensterscheibe. »Das ist wohl recht unwahrscheinlich.«
»Jawohl, Herr. Aber es wäre noch unwahrscheinlicher, wenn nicht der Michaelis in einem Landhaus in der Nachbarschaft säße.«
Beim Klang dieses Namens, der unerwartet in die langweilige Geschichte hineinplatzte, ließ der Kommissar unvermittelt den Gedanken an die abendliche Whistpartie in seinem Klub fallen. Dies war die tröstlichste seiner Lebensgewohnheiten, wobei er sein Geschick ohne die Unterstützung von Untergebenen entfalten konnte. Er spielte in seinem Klub von fünf bis sieben, bevor er zum Abendessen heimging, und in diesen zwei Stunden vergaß er alles, was seinem Leben fehlte, als wäre das Spiel eine wohltätige Arznei, die das Bohren innerer Unzufriedenheit übertäubte.
Seine Mitspieler waren der schwermütige Herausgeber einer bekannten Zeitschrift, ein schweigsamer alter Rechtsanwalt mit listigen kleinen Augen und ein äußerst kriegerischer, geradsinniger alter Oberst mit unruhigen, braunen Händen. Diese Drei waren lediglich Klubbekannte. Er traf sie nirgends sonst als am Spieltisch. Sie alle aber schienen sich am Spieltisch als Leidensgefährten zu fühlen, als suchten sie ein Gegenmittel gegen geheime Leiden, und täglich, wenn die Sonne sich auf die zahllosen Dächer der Stadt senkte, empfand er eine weiche, warme Ungeduld, die ihm wie das Gefühl einer warmen, sicheren Freundschaft die Berufsarbeit erleichterte. Jetzt aber verließ ihn diese erfreuliche Empfindung mit einem Schlag, und an ihre Stelle trat eine plötzliche, verstärkte Anteilnahme an seiner beruflichen Aufgabe – dem Schutz der Gesellschaft – eine nicht durchaus geziemende Anteilnahme, die am besten vielleicht als ein jähes und unvermitteltes Mißtrauen gegen die Waffe in seiner Hand zu bezeichnen war.
VI
Die Gönnerin von Michaelis, dem Bewährungsfristapostel, der eine rosige Zukunft für die Menschheit predigte, war eine der einflußreichsten und hervorragendsten Bekannten der Gattin des Kommissars; sie nannte sie Annie und behandelte sie immer noch als ein nicht sehr gescheites und völlig unerfahrenes kleines Mädchen. Immerhin hatte sie sich bereitgefunden, den Kommissar selbst freundlich aufzunehmen, was ihm durchaus nicht bei allen einflußreichen Bekannten seiner Frau geschehen war. Sie hatte vor langer Zeit, in ihrer ersten Jugend, eine glänzende Ehe geschlossen und so vorübergehend genauen Einblick in die hohe Politik gewonnen und einige große Leute kennen gelernt. Sie selbst war eine große Dame. Nun war sie den Jahren nach alt, gehörte aber zu den Ausnahmemenschen, welche die Zeit völlig mißachten wie eine Scheingröße, der sich nur die Menge der Niedriggeborenen nach törichtem Herkommen beugt. Doch ach! auch so manches andere Herkommen, das noch leichter zu mißachten war, fand ihre Anerkennung nicht, gleichfalls aus Gründen des Temperaments – sei es, daß es sie langweilte, oder daß es sich ihren Zu-und Abneigungen in den Weg stellte. Das Gefühl der Bewunderung war ihr unbekannt (und das war einer der Anlässe zu geheimem Kummer für ihren hochadeligen Gemahl), erstens einmal, weil es immer mehr oder weniger auf Durchschnitt deutet, und dann, weil es das Zugeständnis von Unterlegenheit enthält, was beides ihrer Natur völlig fern lag. Eine furchtlose, freimütige Sprache kam ihr leicht an, da sie lediglich von der Höhe ihrer gesellschaftlichen Stellung herab urteilte. Gleich hemmungslos war sie in ihren Handlungen; und da ihr Taktgefühl aus echter Menschlichkeit kam, ihre körperliche Rüstigkeit erstaunlich unverändert blieb und ihre Überlegenheit heiter und herzlich, so hatten sie drei Generationen unendlich bewundert, und die letzte, die sie nach menschlichem Ermessen miterleben sollte, nannte sie eine wundervolle Frau. Sie war klug, mit einem Einschlag schöner Einfalt, von Herzen neugierig, aber nicht, wie so viele Frauen, nur nach leerem Klatsch; so schuf sie sich in ihrem Alter den Zeitvertreib, durch die Macht ihres großen, fast historischen gesellschaftlichen Ansehens alles um sich zu sammeln, was irgendwie über den öden Durchschnitt sich erhob, gesetzmäßig oder nicht, durch Stellung, Witz, Kühnheit, Glück oder Unglück. Königliche Hoheiten, Künstler, Männer der Wissenschaft, junge Staatsmänner und Scharlatane jeder Art und jeden Alters, die wesenlos und unbeschwert wie Korke an die Oberfläche drängen und am besten die Richtung der Zeitströmung anzeigen – alle diese hatte sie in ihrem Hause empfangen, angehört, durchforscht, verstanden, eingeschätzt, zu ihrer eigenen Erbauung. Mit ihren eigenen Worten: sie liebte es, zu sehen, wohin die Welt trieb. Und bei ihrem starken Wirklichkeitssinn war ihr Urteil über Männer und Dinge, wenn auch auf besonderer Voreingenommenheit fußend, selten ganz falsch und nie verschroben. Ihr Salon war wohl der einzige Platz in der weiten Welt, wo ein Polizeikommissar mit einem auf Bewährungsfrist entlassenen Sträfling anders als beruflich und amtlich zusammentreffen konnte. Der Kommissar erinnerte sich nicht mehr genau daran, wer Michaelis eines Nachmittags mitgebracht hatte. Es war wohl ein gewisses Parlamentsmitglied gewesen, das trotz hochmögender Verwandtschaft oft außergewöhnliche Sympathien zeigte und damit zur stehenden Figur in den Witzblättern geworden war. Die wirklichen und die Scheinhelden des Tages führten einer den andern unbekümmert in diesen Tempel ein, den die alte Frau ihrer durchaus nicht kleinlichen Neugier errichtet hatte. Ein Wandschirm aus blauer Seide in Goldleisten teilte von dem großen Empfangsraum, wo sich im Lichte der besonders hohen Fenster stehende und sitzende Gruppen summend unterhielten, eine lauschige Ecke ab, die nur den Vertrautesten zugänglich war; wurde man dort vorgelassen, so konnte man nie wissen, wen man antreffen würde.
Michaelis war der Gegenstand eines Umschwungs der öffentlichen Meinung gewesen. Derselben Meinung, die vor Jahren das harte Todesurteil bejubelt hatte, das wegen seiner Mittäterschaft an einer tollkühnen Gefangenenbefreiung gegen ihn ergangen war. Der Plan der Verschwörer war es gewesen, die Pferde des Polizeitransportwagens niederzuschießen und die Bemannung zu überwältigen. Dabei wurde unglückseligerweise auch ein Polizeiwachtmeister erschossen. Er hinterließ eine Frau und drei kleine Kinder; und der Tod dieses Mannes verursachte