Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
morgen in der Hauptpost gesehen. Mir war nämlich zufällig eine Nachricht in die Hände gefallen, die an die Redaktion meiner Zeitung geschickt wurde. Unser Korrespondent in Great Bradley hatte eine Liste der Adressen erhalten und uns eingesandt. Ich sah also, daß einer der Briefe an George Tollington in Chikago adressiert war, und fuhr daraufhin nach Great Bradley. Das Entgegenkommen eines hohen Beamten machte es mir möglich, den Brief zu kopieren. Er war nur kurz.«
Frank zog ein Blatt Papier heraus und las den Inhalt vor:
Lieber George,
ich wollte Dir nur mitteilen, daß wir alle wohlauf sind und daß es uns gut geht. Ich habe Deine Zeilen in der »Times« gelesen und freute mich sehr, wieder etwas von Dir zu hören. Henry läßt Dich bestens grüßen.
Deine Schwester Annie
»Natürlich ist das keine erschütternde Entdeckung, es ist aber immerhin ein Anhaltspunkt«, meinte er gleichsam entschuldigend, als er den Bogen wieder zusammenfaltete und in die Tasche steckte. »Ich vermute zwar, daß in Great Bradley dauernd viele Frauen gewohnt haben, die den Vornamen Annie trugen, aber auf alle Fälle ist es doch etwas.«
»Da haben Sie recht.«
»Für mich hat – oder vielmehr hatte es sogar eine große Bedeutung. Ich hatte einen Vertrag mit Ihrem Onkel geschlossen, der durch die anderen Treuhänder des Vermögens bestätigt wurde. Wirklich, es hatte für mich eine große Bedeutung«, wiederholte er.
Sie schaute schnell zu ihm auf.
»Meinen Sie Geld?« fragte sie.
»Nein, etwas anderes«, sagte er leise. »Doris, ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, daß diese Bestimmung in dem Testament Ihres Onkels steht. Es ist ein entsetzlicher Gedanke für mich, daß Sie durch den Wunsch Ihres Onkels gezwungen werden könnten, etwas zu tun, was Ihnen zuwider ist.«
Sie wurde rot und wandte ihren Blick von ihm ab.
»Ich – ich möchte keinen Vorteil aus dieser Bestimmung ziehen«, fuhr er schüchtern fort, »ich möchte nur, daß Sie glücklich werden. Sie sollen nur zu mir kommen, wenn Sie mich wirklich aufrichtig lieben.«
Sie antwortete ihm nicht, sondern seufzte schwer.
»Ich hatte gehofft, Ihnen eines Tages selber alle materiellen Vorteile bieten zu können, die ein Mann der geliebten Frau zu Füßen legt.«
»Glauben Sie, daß ich mich davon hätte beeinflussen lassen?« fragte sie schnell.
»Sie hätten dann nicht denken können, daß ich Sie Ihres Vermögens wegen liebe. Sie wären dann vielleicht eher davon überzeugt gewesen, daß ich von einer Heirat mit Ihnen nichts anderes erhoffte, als die Liebe der anbetungswürdigsten Frau, die ich auf der Welt kenne.«
In ihren Augen glänzten Tränen.
»Ich bin mir selbst ein Rätsel, Frank, wie ich es Ihnen sein muß. Sie sind mir teuer, aber ich bin nicht sicher, daß meine Zuneigung zu Ihnen so groß ist, wie Sie es wohl wünschen möchten.«
»Gibt es einen anderen Menschen, dem Sie Ihre Liebe schenken würden?« fragte er nach einer Pause.
Sie vermied seinen Blick und spielte mit der Seidenquaste ihres Sonnenschirms.
»Nein, niemanden – ganz bestimmt nicht.«
»Auch nicht vorübergehend?« fragte er hartnäckig.
»Es gibt im Leben stets Menschen, von denen man sich vorübergehend angezogen fühlt. Frank, ich glaube, Sie haben ebensoviel Chancen wie jeder andere.« Sie zuckte die Schultern. »Ich spreche so, als ob ich ein wertvoller Preis wäre, um den man sich bemühen muß, aber ich versichere Ihnen, daß ich nicht so fühle. Ich habe keine große Meinung von mir und meinen Fähigkeiten und bin mir niemals bescheidener vorgekommen als in diesem Augenblick.«
Er ging mit ihr bis zum Ende des Parkes und geleitete sie zu einem Auto. Dann beobachtete er den Wagen noch, bis er in dem lebhaften Verkehr außer Sicht kam.
Doris Gray wurde von ihren Stimmungen hin und her geworfen. Es bedurfte eines starken Eindrucks, um ihr klarzumachen, welchen Weg sie gehen mußte. Poltavo hatte großen Einfluß auf sie gewonnen. Sein Gesicht, seine Stimme, die ganze Atmosphäre, die ihn umgab, waren ihr ständig gegenwärtig.
Sie erreichte ihr Heim am Brakely Square und wollte schnell in ihr Zimmer gehen, aber der Hausmeister hielt sie mit wichtiger Miene an.
»Ich habe einen Brief für Sie, Miss Gray, der sehr dringend ist. Der Überbringer bat darum, daß er Ihnen so bald wie möglich übergeben werden sollte.«
Sie nahm den Umschlag aus seiner Hand – die Adresse war mit Maschine geschrieben. Sie riß das Kuvert auf und fand ein zweites darin, das ebenfalls eine maschinengeschriebene Aufschrift trug.
»Lesen Sie diesen Brief, wenn Sie ganz allein sind. Schließen Sie die Tür ab und vergewissern Sie sich, daß niemand in der Nähe ist.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. Welches Geheimnis mochte er enthalten? Aber sie tat doch, was man von ihr verlangte, ging in ihr Zimmer, öffnete den zweiten Umschlag und nahm ein Schreiben heraus, das nur wenige Zeilen enthielt. Sie atmete schwer und erbleichte, denn sie erkannte die Handschrift sofort. Der Brief, den sie in ihrer zitternden Hand hielt, lautete:
Ich wünsche, daß Du Frank Doughton innerhalb von sieben Tagen heiratest. Mein ganzes Vermögen, ja mein Leben hängt vielleicht hiervon ab.
Gregory Farrington
Unten standen noch ein paar dick unterstrichene Worte: Verbrenne das Schreiben sofort, wenn Dir etwas an meiner Sicherheit gelegen ist.
*
Mr. Smith trat entschlossen in das Büro seines Vorgesetzten.
»Gibt es etwas Neues?« fragte Sir George und schaute auf.
»Ich kann Ihnen alles sagen, was ich weiß, und noch viel mehr, was ich nicht weiß, sondern nur vermute.«
»Erzählen Sie mir zuerst die Tatsachen, dann Ihre Vermutungen.«
»Tatsache eins«, begann der Detektiv, nahm einen Stuhl, zog ihn an den Tisch und zählte die einzelnen Punkte an seinen Fingern ab. »Gregory Farrington lebt. Der Mann, dessen Leiche wir in der Themse auffischten, ist zweifellos derjenige, der bei dem Einbruch im Zollamt durch einen Schuß getötet wurde. Ich schließe daraus, daß Gregory Farrington der zweite Mann war, der sich an dem Verbrechen beteiligte. Der Plan, den Koffer von Dr. Goldworthy zu stehlen, war sehr fein ausgeklügelt. Der Koffer enthielt allem Anschein nach ein Tagebuch, das Gregory in die Gewalt einer Frau brachte, die ihn unendlich schädigen konnte.«
»Meinen Sie Lady Constance Dex?« fragte Sir George interessiert.
»Ja, das ist die Dame. Farrington war verantwortlich für den Tod ihres Geliebten, und er ist auch andern Unglück ihres Lebens schuld. Er erzählte George Doughton von ihrer Vergangenheit. Doughton, der hohe moralische Anforderungen stellte, war aufs tiefste verletzt und ging sofort nach Afrika, ohne sich noch einmal mit ihr in Verbindung zu setzen oder überhaupt festzustellen, wieweit sie schuldig war. Das Tagebuch mußte Lady Dex vollständig über alles aufklären, und Farrington, durch seine Agenten in Afrika aufs beste informiert, hatte allen Grund zu verhüten, daß dieses Dokument in die Hände der Frau kam, die sich erbarmungslos an ihm rächen würde.«
»Kann man das beweisen?« fragte Sir George.
»Durchaus.« Mr. Smith nahm einige Schriftstücke aus seiner Tasche und legte sie auf den Schreibtisch. »Ich habe hier die Kopie des Briefes, den der verstorbene Mr. Doughton an Lady Constance schrieb. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie ich in den Besitz dieses Schriftstücks kam, aber meine Abteilung ist nicht wählerisch in ihren Methoden –«
»Das weiß ich«, sagte Sir George mit einem leichten Lächeln. »In dem Pfarrhaus ist vor zwei Tagen eingebrochen worden, und vermutlich war der neugierige Dieb Ihr eigener Privatsekretär Sikes.«