Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
schon. Aber es gibt Ausnahmen. Sehr wichtige Positionen, solche, bei denen ein Verlust des Wissens gefährlich wäre, werden auch von Unsterblichen besetzt. Die Erschaffung eines Essenzstabes muss mühevoll erlernt werden. Das dauert Jahrzehnte.«
»Verstehe«, sagte Alex. »Da ist ein Unsterblicher praktisch. Einmal gelernt, geht das Wissen niemals verloren. Wer ist es?«
»Michel de Nostredame. Vermutlich kennst du ihn als …«
»Nostradamus«, keuchte er. »Echt jetzt? Kann er wirklich in die Zukunft sehen?«
Jen sprang nach vorne, rollte sich ab und richtete ihren Essenzstab in den Schatten zwischen zwei Regalen. Doch da war nichts. »Er konnte es Zeit seines Lebens und später auch als Unsterblicher. Bis der Wall errichtet wurde.«
»Oh. Und weil dieser seine Existenz aus den Sigilen aller speist …«
»Verloren alle Seher ihre Gabe, ja. Seitdem bereist er die Welt und trägt Schriften zusammen, die er einst schrieb, um die Zukunft vorauszusagen. Außerdem hält er Ausschau nach den Hinterlassenschaften anderer Seher. Ich wollte ihn heute auch auf Joshuas Erbe und unseren Folianten ansprechen.«
»Scheinbar kam dir jemand zuvor.«
Sie hatten die Untersuchung der Bibliothek abgeschlossen. »Niemand hier.«
»Vielleicht ist nur ein Experiment schiefgelaufen?«, überlegte Alex.
»Dieser Raum ist Nostradamus heilig. Jede Schrift enthält Prophezeiungen, Hinweise auf die Zukunft. Manche sind totaler Humbug, aber andere kostbarer als ein Essenzstab. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie auszuwerten.«
»Verstehe.«
Jen zeichnete ein Symbol in die Luft. Ihr Finger hinterließ eine magentafarbene Spur. Alex versuchte, das Machtsymbol zu analysieren, doch immer wenn er glaubte, die Funktion zu begreifen, verschwand das Wissen wieder. Als es vollendet war, entstand ein Ball aus Licht, der explodierte und einen Schauer durch den gesamten Raum jagte.
Aufmerksam sah Alex sich um.
Tatsächlich loderte neben dem wuchtigen Schreibtisch eine Energielohe empor, die langsam verwehte.
Jen ging daneben in die Knie. »Blut.«
»Verdammt.«
»Das ist gut. Na ja«, korrigierte sie sich schnell, »nicht wirklich. Aber wenigstens können wir nun einen Aufspürzauber anwenden. Er wird uns zu Nostradamus führen.«
»Kannst du daraus auch ablesen, ob er noch am Leben ist?«
Jen schluckte. »Nein. Gib mir etwas Ruhe, das wird jetzt kompliziert.«
Alex erhob sich. Während sie den Zauber wob, schlenderte er durch die Bibliothek. An der Wand hingen Gemälde, die Landschaften der Provence abbildeten. Andere zeigten Sternenbilder. Neben den von Hand gemalten klassischen Bildern gab es auch solche, die wirkten, als seien die Rahmen Fenster, die eine Aussicht auf den abgebildeten Ort zeigten. Er trat an eines jener eindeutig magisch erschaffenen Kunstwerke heran. Es zeigte eine idyllische Lichtung.
Ein Reh rannte im Dickicht vorbei, Schmetterlinge saßen auf einem gewaltigen Blatt, das sich zu beiden Seiten gen Erdboden bog. Gegenüber dem Bild öffneten sich Berghänge und boten einen atemberaubenden Anblick. Nebel hing über den Wipfeln, die Sonne brach sich in Wassertropfen. Es musste geregnet haben.
Er streckte die Hand aus.
Seine Fingerspitzen berührten ein Hindernis, das zu wabern begann. Als durchstieße er eine stehende Wasserfläche mit dem Finger, warf es Wellen. Auf der anderen Seite war Luft. Und Wärme.
Das Bild ist ein kleines Portal. Aber wie macht er das?
»Beeindruckend, oder?«, fragte Jen neben ihm.
Aufschreiend zuckte Alex zurück.
»Schön, dass du so gut Wache hältst«, kommentierte sie. »Wenn ich dich in Staub hätte verwandeln wollen, wäre das ziemlich einfach gewesen.« Sie seufzte. »Das hier muss total aufregend für dich sein. Mir wäre es auch lieber, du könntest dir alles in Ruhe ansehen. Aber, ich weiß nicht, ob dir das klar ist: Wir befinden uns in Lebensgefahr.«
»Tut mir leid.«
Sie nickte. »Komm.«
Von dem Blutfleck auf dem Boden führte eine durchscheinende, sphärisch anmutende Spur durch die Luft davon.
»Sie weist uns den Weg zu Nostradamus«, erklärte Jen. »Hoffentlich schnell genug.«
Alex warf einen letzten Blick auf den zerstörten Raum.
Dann folgten sie beide dem Leuchten.
4. Echos aus dem Gestern
Jen schaute sich aufmerksam um, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Sie wollte Alex keine Angst machen, es reichte, wenn einer von ihnen der Panik nahe war. Natürlich hatte sie sofort versucht, mit dem Kontaktstein Johanna, Leonardo, Clara und Kevin zu informieren. Doch sie war nicht zum Castillo durchgekommen. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, ein Dämpfungsfeld um diesen Ort zu errichten. Natürlich konnte es sein, dass der Schutz noch von Nostradamus erschaffen worden war. In dem Fall wurde ihnen dessen Sicherheitswahn nun zum Verhängnis. Wer ihn auch immer angegriffen hatte, musste über verdammt mächtige Magie gebieten. Ein Unsterblicher, geschult durch die Jahrzehnte, in diesem Fall sogar Jahrhunderte des Lebens und obendrein in unzähligen Kämpfen erprobt, ließ sich nicht so einfach ausschalten.
Bedauerlicherweise kamen trotzdem zahlreiche Feinde infrage, denen sie so etwas zutraute. Saint Germain und der dunkle Rat, die wenigen anderen, die diesen zuarbeiteten, möglicherweise der Bund des Sehenden Auges – von dessen Existenz sie erst kürzlich erfahren hatten – oder die Schattenfrau.
Letztere war zweifellos stark, sie schien etliche Jahrhunderte auf dem Buckel zu haben. Andererseits hatte sie – soweit Jen wusste – niemals selbst so offen angegriffen. Das übernahmen meist die anderen. Sie war eher eine Intrigantin, die aus dem Hintergrund wirkte. Dem Schatten. Ihre Bezeichnung trug sie nicht umsonst. Wie gerne hätte Jen dieses elende Miststück mit einem gezielten Zauber erledigt und das Schattenfeld aufgehoben. Wer mochte wohl darunter zum Vorschein kommen?
Sie pirschten durch die weitläufigen Gänge, jederzeit darauf bedacht, sich eines Angriffs zu erwehren. Doch nichts geschah. In Jen reifte der Verdacht heran, dass Nostradamus einfach nur hatte beseitigt werden sollen. Denn dadurch kamen die Lichtkämpfer nicht länger an neue Essenzstäbe.
Sie stiegen Treppenstufen empor, rannten Gänge entlang und erreichten schließlich eine wuchtige Holztür, die offen stand. Die Spur führte direkt hinein. Jen sprang mit erhobenem Stab voran. Alex folgte dichtauf. Auch hier erwartete sie keine böse Überraschung.
»Seltsam.« Sie sah sich um.
Und realisierte im gleichen Augenblick, wo sie sich befanden.
»Zurück!«
Doch die Eingangstür schlug dumpf zu, ein Klacken ertönte.
»Was ist los?« Panisch warf Alex den Kopf hin und her, suchte nach einer herannahenden Gefahr.
»Das hier ist die Erinnerungskammer. Normalerweise betritt man sie alleine. Aufgrund dessen, was der Raum offenbart – und Nostradamus’ späterer Prüfung – wird der Essenzstab zugeteilt. Das wird jetzt …«
Stein wurde zu Glas.
Von einem Augenblick zum nächsten standen sie in einem gläsernen Kubus, dessen Wände, Boden und Decke wie überdimensionale Monitore erschienen. Es war allerdings kein Fernsehprogramm, das übertragen wurde.
Jen starrte entsetzt auf die Szene, die sich ihr bot.
Alex stand in einer heruntergekommenen Unterführung, umringt von anderen Jugendlichen. Er war um die zwanzig Jahre alt, vielleicht etwas älter. Auf seinem Kopf saß eine Basecap,