Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Alex aus dem Stadtteil Brixton in London stammte, genauer: Angell Town. Ein gefährliches Pflaster. Warum also hatte sie so gar kein Verständnis?
Weil ich die andere Seite der Gewalt kennenlernen durfte. Und die Folgen daraus, wenn man dem Durst nach Rache nachgibt, überlegte sie.
Der Weg durch Nostradamus’ Refugium schien kein Ende zu nehmen. Wo der Seher es auch errichtet hatte, Platz musste es hier zur Genüge geben. Es war nicht ungewöhnlich, dass Magier das Innere ihres Domizils mit Dimensionsfalten gegenüber dem äußeren Anschein vergrößerten. Das barg allerdings Gefahren für die Struktur. Nur die besten Architektmagier wagten sich an komplexe Falten.
Das Paradebeispiel für ein Netzwerk aus solchen Dimensionsfalten und Türportalen war das Archiv. Über die gesamte Erde verteilte Räume, die miteinander verbunden waren und den Eindruck erweckten, dass es sich um ein einzelnes Gebäude handelte. So war es ihr zumindest in einer Vorlesung erklärt worden. Betreten hatte sie das Archiv noch nie. Es galt als heiliger Ort, der nur von den Ratsmitgliedern aufgesucht werden durfte – und das auch nur auf Einladung der Archivarin. In wenigen Ausnahmefällen erhielten Lichtkämpfer einen temporären Zugang. Sie hatte allerdings noch nie zuvor von einem Fall gehört, bei dem das geschehen war.
Sie passierten eine Kreuzung.
Irgendwann änderte sich der Baustil. Zuerst unmerklich, dann abrupt. Die ausladenden Kronleuchter, die Landschaftsmalereien, die bestickten Vorhänge – all das erinnerte Jen an das französische Barock.
»Immer mal was Neues«, kommentierte Alex. »So wird es nie langweilig. Anstatt neu zu dekorieren, legt man einfach ein paar Räume dazu, die anders gestaltet sind.« Er schüttelte den Kopf. »So viel zu einer kleinen beengten Wohnung.«
Ihr lag ein spitzer Kommentar auf der Zunge, aber sie wollte nicht erneut streiten. Das hier war ein Einsatz. Nostradamus war in Gefahr, ihr Gegner möglicherweise noch vor Ort.
Und mochte Alex auch ein arroganter Mistkerl sein, so war er aktuell doch ihr Schützling. Als Newbie konnte er sich gegen einen echten Angriff niemals verteidigen. Dafür war sie zuständig. Eine Aufgabe, die sie zu respektieren gedachte.
Duellieren kommt später.
Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte. Jen erwartete hinter jedem Mauersims eine hervorspringende Kreatur oder den Angriff eines Schattenkriegers. Doch nichts geschah. Sie gingen einfach nur immer weiter.
Schließlich mündete der Gang in eine umlaufende Galerie. Fein gearbeitete Stuckarbeiten ragten aus den Wänden. Sie stellten Wasserspeier, Dämonen und Engel dar. Drei Stockwerke unter ihnen standen Statuen auf Granitpodesten. Die Balustrade ging bis zur Hüfte, war aus weißem Sandstein gehauen.
»Wow«, flüsterte Alex. »Das ist echt beeindruckend. Ist das da vorne Himmelsglas?« Er deutete auf ein gewaltiges Fenster aus schwarz schimmerndem Glas.
»Bearbeitetes, ja«, bestätigte Jen. »Das Glas selbst schützt vor magischen Schlägen. Man kann es jedoch in jahrelanger Arbeit verfeinern und um gewisse Potenziale erweitern. Das hier ist eine Meisterarbeit.«
Sie folgten der Spur, die die Treppe hinab zu den Statuen führte.
Jen schluckte.
Fast erwartete sie, dass die steingehauenen Bildnisse von ihren Sockeln stiegen und sie angriffen. Doch auch hier blieb eine Attacke aus.
Die Spur endete vor einer Statue, die nicht auf einem Granitblock stand, sondern inmitten der anderen.
»Lustig«, sagte Alex. »Genau so hab ich mir den alten Zausel immer vorgestellt.«
Jen riss die Augen auf. »Das ist er!« Sie betrachtete die Statue von oben bis unten. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass die Augen lebendig waren. Sie bewegten sich, waren vor Panik geweitet.
»Shit«, entfuhr es Alex. »Jemand hat ihn in eine Statue verwandelt.«
Jen prüfte den Zauber mit einem simplen Indikatorspruch. »Er wurde nicht transformiert. Es ist nur eine Steinschicht, die den Körper umgibt, den Sauerstoff aber durchlässt. Nostradamus ist unversehrt, kann sich aber nicht bewegen.«
»Hört er uns?«
»Ja.«
Alex grinste, wobei er vermutlich glaubte, dass es einnehmend rüberkam. »Sorry für den alten Zausel. Nett, dich kennenzulernen.«
Jen schluckte. »Ich zerbreche jetzt den Stein. Das wird wehtun.«
Vorsichtig erschuf sie den Zauber.
9. Die Mentigloben
»Wow«, entfuhr es Clara.
Über ihnen an der Decke schwebten Drahtmodelle der ersten Flugzeuge und Gleiterflügel. Die Wand war behangen mit allerlei Gemälden, die Leonardo einst angefertigt hatte; er hatte sie direkt noch einmal gemalt.
Chloe deutete auf eines davon. »Und, hat er endlich mit der Sprache herausgerückt?«
»Wer für das Mona-Lisa-Porträt Modell saß? Nein.«
So ziemlich jeder versuchte, dem Unsterblichen diese Information zu entlocken. Angeblich sogar Johanna von Orléans, der er ein Replikat gemalt hatte. Doch er schwieg eisern.
Wie im Büro seiner Ratsgefährtin, gab es auch hier einen Globus. Natürlich völlig veraltet. Er stammte aus Leonardos Zeit des ersten Lebens als Nimag. Die Landesgrenzen hatten sich längst vollständig verschoben.
Auf nahezu jedem freien Fleck im Raum stapelten sich Papiere, dicht beschrieben mit der krakeligen Handschrift des Unsterblichen, unlesbar. Seine Marotte, alles rückwärts mit der linken Hand zu schreiben, machte es schwer, die Notizen zu entziffern.
»So, wo sind diese dummen Dinger jetzt?«, überlegte Clara.
Chloe lachte. »Komm schon, Bibliotheks-Girl, so einfach wird es auch wieder nicht. Dachtest du, wir spazieren hier herein und die Dinger schweben unter der Decke.« Sicherheitshalber schaute sie nach oben. »Nein.«
»Okay, ähm, Hackerbraut, aber wo suchen wir?« Chloes Vorliebe dafür, jedem Kosenamen zu verpassen – und diese zudem noch ständig zu wechseln –, konnte einem den letzten Nerv rauben.
Sie öffneten Schubladen, Schränke, klopften den Holzboden ab, hoben jedes Gemälde an, um einen möglicherweise verborgenen Tresor zu finden und prüften den Raum mit Indikatorsprüchen auf maskierte Dimensionsfalten.
»Und ich dachte, wenn ich erst zurück bin, gibt es wieder Action«, grummelte Chloe. »Stattdessen kriechen wir hier herum und es ist kein Einsatz in Sicht. Hätte gerne ein paar Schattenkrieger vermöbelt.«
Clara wusste, dass die Freundin nicht der emotionale Typ war. Sie ging mit Trauer anders um als die übrigen. Marks Verlust schmerzte sie jedoch sehr. »Willst du nicht wenigstens eine Andeutung über deinen Auftrag fallen lassen?«
»Würde ich ja gerne. Aber das kriegen die raus, verlass dich drauf. War echt streng geheim.«
»Muss auch mal sein. Bin trotzdem froh, dass es vorbei ist. Wie läuft’s mit Gryff?«
»Ach, wir …« Clara starrte die Freundin entsetzt an. »Du weißt davon?«
»Ich bitte dich. Wie sollte ich den Moment vergessen, als du mit einem Stapel Bücher in den Armen hoch erhobenen Hauptes aus der Bibliothek stolziert und mit ihm zusammengeknallt bist. Dass er gerade vom Training kam und sein Shirt abgestreift hatte, hat dich echt umgehauen, was?« Sie grinste frech.
Clara verpasste ihr einen Ellbogenstoß. »Wir haben uns danach wunderbar unterhalten.«
»Klar. Vermutlich mit einfachen Worten. So was wie: Ah. Oh. Ja. Tiefer.«
Ihre Wangen wurden heiß. »Du bist unmöglich.«
»Ach, Mensch, jetzt nimm nicht immer alles so ernst. Ist ja schlimm mit dir. Freut mich doch, wenn