Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Tabu galt, einen Unsterblichen zu töten. Zudem war es völlig sinnlos, wurde doch sofort ein neues Ratsmitglied ernannt. Niemand wusste, wie das ablief, aber plötzlich gab es jemand anderen, der sich um die Menschheitsgeschichte verdient gemacht hatte und der einfach da war.
Daher waren sowohl die Lichtkämpfer als auch die Schattenkrieger dazu übergegangen, die unsterblichen Feinde gefangen zu nehmen.
Hierfür gab es den Immortalis-Kerker. Dort wurden die Unsterblichen des dunklen Rates inhaftiert, falls man ihrer habhaft wurde. Da Lichtkämpfer grundsätzlich niemanden töteten, wenn es sich vermeiden ließ, wanderten auch die Schattenkrieger dorthin. So wurde zudem verhindert, dass Erbe der Macht entstanden. Die Zeit im Inneren war vollständig eingefroren, die betreffende Person konnte jahrelang eingesperrt bleiben, nahm subjektiv aber nur Sekunden wahr.
Umgekehrt besaßen die Schattenkrieger den Novum-Absolutum-Kerker. Hier landeten gefangene Unsterbliche der Lichtkämpfer. Die dortigen Zellen waren bisher glücklicherweise leer geblieben, sah man von einem bedauerlichen Zwischenfall ab. Tomoe Gozen war vor vielen Jahren in die Hände des dunklen Rates gefallen, der sie eingekerkert hatte. Trotz intensiver Suche war es den Lichtkämpfern erst drei Jahre später gelungen, sie zu befreien. Die Zeit schien dort nicht stillzustehen. Stattdessen wurde der oder die Gefangene vom absoluten Entzug aller äußeren Eindrücke gepeinigt. Er oder sie schwebte im Nichts, war sich der verstreichenden Zeit aber bewusst. Drei Jahre Hölle.
Die Erfahrung hatte Tomoe verändert. War sie zuvor eine der aktivsten Unsterblichen gewesen, die durch die Welt zog und überall Schattenkrieger bekämpfte, hatte sie sich seitdem zurückgezogen. Sie gründete die Holding der Lichtkämpfer, über die Aktienanteile, Immobilien und andere Werte gebündelt und vermehrt wurden. Das machte sie ausgezeichnet. Das Vermögen des Rates wuchs seither ständig.
»Was, glaubt ihr, wollte er mit der Wandlung von Menschen in Schattenkreaturen erreichen?«, überlegte Einstein.
»Gute Frage, Albert«, kam es von Johanna. »Langsam scheint er fieberhaft nach einer Möglichkeit zum Angriff zu suchen. Die letzten Attacken auf dem Kristallschirm des Castillos waren ja wohl eher verzweifelter Natur.«
Tomoe ging gelassenen Schrittes auf und ab. »Möglicherweise ist dieser Aktionismus gar nicht so sehr gegen uns gerichtet. Meine Kontakte munkeln, dass Dschingis Khan den Versuch unternehmen will, die Macht im dunklen Rat an sich zu reißen.«
»Ha!«, rief Leonardo triumphierend. »Das wäre doch mal was. Würde ihm recht geschehen.«
»Ich glaube kaum, dass das gut für uns ist«, gab Einstein zu bedenken. »Saint Germain ist ein Taktiker, ein Logiker. Dschingis Khan würde sofort lospreschen. Er ist brutal und eiskalt, bedauerlicherweise aber auch hochintelligent. Er hat nicht umsonst ein Weltreich erschaffen. Der Berechenbarere von beiden ist der Graf.«
»Wenn er aus Verzweiflung diese Experimente durchführt, kann man ihn wohl kaum als berechenbar bezeichnen«, konterte Leonardo. »Außerdem kann es uns egal sein, wer da an der Spitze steht. Die großen Offensiven müssen doch sowieso von allen abgesegnet werden, oder nicht?«
»Das schon«, erklärte Tomoe. »Nur hält sich meist niemand daran. Wenn einer dieser Idioten einen Plan fasst, führt er ihn auch aus. Und keiner will ihn oder sie am Ende zur Rechenschaft ziehen, weil sie genau wissen, dass sie es irgendwann selbst tun werden.«
»Hm«, kam es von Einstein. »Ein wenig wie bei uns.«
»Also, Albert«, sagte Johanna. »Wir würden nie …«
»Keinesfalls«, warf Leonardo ein. »Nicht ohne Rücksprache.«
»So was käme hier nie vor«, vollendete Tomoe.
»Ha!«, rief Clara. »Das sagt der Richtige.« Sie deutete auf Leonardo. »Der macht doch immer, was er will.«
»Er ist schon knuffig.« Chloe trat vor den Unsterblichen und begutachtete ihn von oben bis unten. »Hat was.«
Sie lauschten dem Schlagabtausch noch eine Weile, doch schließlich brachen sie den Erinnerungsaufruf ab. Es war offensichtlich, dass sie hier nichts mehr über den angeblichen Verräter erfahren würden. Die Erinnerung zerfaserte und entließ sie zurück in die Wirklichkeit.
Dieses Mal wählte Chloe einen der Mentigloben aus. Wieder tauchten sie ein in eine längst vergangene Zeit.
11. Memorum excitare II
Die Szene erwachte sofort zum Leben. Beinahe wäre Clara Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt, als sie auf der Balustrade der Plattform einer gewaltigen Turmuhr erschien. »Himmel!« Sie machte einen Satz zurück.
Die Zeiger deuteten auf kurz vor zwölf.
Leonardo und Johanna standen Rücken an Rücken, die Essenzstäbe erhoben, und erwehrten sich einer Horde von Schattenkreaturen. Dazwischen sprangen Schattenkrieger heran, die mit gezückten Stäben Kraftschläge abfeuerten.
»Hm, das könnten die 70er oder 80er sein«, murmelte Chloe.
»Albert, vielleicht beeilst du dich etwas«, rief Johanna.
»Ist ja gut«, kam es zurück. »Ein alter Unsterblicher ist doch kein D-Zug.«
Der Professor stand auf einem Vorsprung, hatte sich um die Platte der Uhr gebeugt und friemelte an deren Innereien herum.
»Wenn das Ding zwölf Uhr schlägt, wird jeder Bewohner dieser Stadt zu Stein«, fluchte Leonardo. »Vielleicht wirst du doch lieber zu einem D-Zug.«
»Immer diese Hetzerei«, grummelte Einstein. »Reparier dies, Albert, reparier das. Ach ja, und bitte gestern. Ich weiß, verdammt noch mal, was auf dem Spiel steht.«
»Wir sollten wieder gehen«, sagte Clara.
»Warte, ich will sehen, wie das hier ausgeht«, erwiderte Chloe gebannt.
In der Ferne kam ein Schwarm geflügelter Kreaturen heran. Die ledrige Haut war bedeckt von tiefen Runzeln. Die Flügel besaßen eine beachtliche Spannweite, waren aber – wie sich kurz darauf herausstellte – gegen Kraftschläge immunisiert.
»Von wegen, Saint Germain ist verzweifelt«, fluchte Leonardo. »Es mag ja sieben Jahre gedauert haben, aber die Viecher sind verdammt effektiv.«
»Das konnte ja niemand ahnen«, brummte Johanna. »Die armen Nimags. Und dann gleich noch Steinzauber obendrauf. Wie kam er nur an das Artefakt heran?«
Hinter ihnen fluchte Einstein lauthals.
»Nur keine Eile, Albert«, rief Leonardo.
»Du kannst mich mal!«, kam es zurück.
Johanna grinste.
»Das Artefakt stammt angeblich aus den Katakomben unter Paris«, erklärte da Vinci. »Ich bin vor einigen Jahren bei der Suche danach auf alte Unterlagen darüber gestoßen, konnte es aber nicht finden. Irgendjemand war da wohl schneller. Es gab jedoch Gerüchte.«
»Ja?« Johanna schmetterte einen heransurrenden Kraftschlag ab und ließ den Boden unter einem der nahenden Schattenkrieger flüssig werden. »Das gibt wieder eine Sauerei.«
Der Schwarm in der Luft war fast heran.
»Angeblich hielt sie sich damals auch in Paris auf.«
»Oh.« Johanna schien sofort zu wissen, von wem die Rede war. »Na, diesen Zauber würde ich gerne auf sie anwenden und ihr Schattenfeld zu Stein machen. Das wäre doch was.«
»Oho, so brutal, meine Liebe?«, fragte Leonardo.
»Wenn es um sie geht, schon. Langsam hab ich genug. Dann hat sie dem Grafen das Artefakt vermutlich gegeben.«
»Gut möglich.« Leonardo malte mit der einen Hand ein Symbol in die Luft, das eine kobaltblaue Spur hinterließ. Mit der anderen schwang er den Essenzstab. Die Luft rings um die fliegenden Kreaturen flimmerte. Im nächsten Augenblick standen