Toni der Hüttenwirt Paket 1 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
einfach sein.«
Sie waren am Ende der Straße angekommen und bogen in den Weg ein, der zum See führte, an dem auch das Sägewerk lag.
Renate äußerte sich nicht zur letzten Bemerkung von Karsten. So sprach dieser vorsichtig weiter.
»Uns ist das ja weniger gut gelungen!«
»Ja, leider! Uns ist es nicht gelungen.«
Langsam gingen sie nebeneinander her.
»Manchmal frage ich mich, wie das alles so kommen konnte. Wir waren doch einmal glücklich.«
»Ja, das waren wir, genauso glücklich wie Toni und Anna. Doch das sagt sich so leicht, Karsten. Ich frage mich, ob wir wirklich so glücklich waren oder ob jeder von uns doch noch ein anderes Glück anstrebte.«
Karsten atmete tief durch.
»Ich hatte Ziele, große Pläne und dachte, das bräuchte ich, das wäre ein Teil unseres Glücks, das ich schaffen wollte. Nun, ich habe viel erreicht. Doch ich frage mich, ob das alles so nötig war. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Ja, ich habe viel erreicht. Aber ich habe noch mehr verloren. Das ist mir jetzt klargeworden.«
Karsten hob einen Tannenzapfen auf, der auf dem Weg lag und betrachtete ihn. Er befühlte ihn und roch daran.
»Die Tage hier in den Bergen tun mir gut. Ich hatte überhaupt keinen Bezug mehr zur Natur. Ja, dieser Zwangsurlaub, der tut sehr, sehr gut. Ich werde wohl manches in Zukunft anders machen.«
»Dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei, Karsten.«
Sie gingen weiter und setzten sich ans Ufer des Waldsees.
»Interessiert es dich gar nicht, was ich ändern möchte?«
Natürlich war Renate daran interessiert. Doch sie wollte ihre Neugierde nicht so offen zeigen. Sie hatte die ganzen Tage schon gespürt, daß in Karsten eine Veränderung vorging. Sie hob ein paar Steine auf und warf sie ins Wasser. Es spritzte. Sie schauten zu, wie die kreisförmigen Wellen langsam ausrollten.
Ohne eine Antwort Renates abzuwarten, fing Karsten an zu erzählen.
»Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht. Es war schwer für mich, nichts tun zu können. Da war die Sorge um Dennis, die ich immer noch habe. Ich erkannte, daß es Dinge gibt, die selbst ich nicht so einfach regeln kann. Es war meine feste Überzeugung, daß mir für jedes Problem sofort eine Lösung einfällt.«
»Das hat dich ja in deinem Beruf so erfolgreich gemacht. Du hast immer an dich geglaubt. Daß du alles lösen kannst, wurde dir zu deiner zweiten Natur, wie man sagt.«
Karsten riß ein paar Binsen aus und spielte damit.
»Es war mehr als meine zweite Natur. Es durchdrang mein ganzes Wesen. Es wurde mir zur ersten Natur. Ich hatte auf alles eine Antwort, einen Plan. Ich wußte immer die perfekte Lösung.«
Karsten ließ die grünen Binsen durch seine Finger gleiten.
»Ich hatte mir da eine Welt zurechtgezimmert, in der alles seine Ordnung hatte – eine Ordnung, wie ich sie wollte, geschaffen hatte.«
Er seufzte.
»Dann stehe ich da in einer alten Holzfällerhütte. Vor mir steht Gewolf Irminger, der Polizist, und hält mir Schokoladenpapier hin. Er zeigt mir die leere Verpackung der Kekse. Er stellte mir nur eine ganz einfache Frage. Ich konnte sie ihm nicht beantworten. Ich wußte nicht, welche Schokolade Dennis gerne aß oder welche Kekse.«
Karsten schluckte. Renate spürte, daß er sehr bewegt war.
»Ich schämte mich so, Renate. Ich kam mir wie ein Versager vor. Ich war sprachlos, wortlos. Ich konnte Irminger nur stumm ansehen und mit den Schultern zucken. Er stellte mir noch mehr Fragen über Dennis. Ich konnte sie nicht beantworen.«
Karsten spielte weiter mit den Binsen. Er stand auf und riß weitere Binsen aus. Er band Büschel von Binsen zusammen und dann mehrere Büschel zu einem Floß. Er setzte das Binsengeflecht ins Wasser.
»Als Kind hab ich mit meinen Freunden oft am Fluß gespielt. Damals war die Presse voll mit Berichten über die Kon Tiki, dem Boot aus Binsen mit dem Theodor Heyerdahl übers Meer gefahren ist. Das spielten wir nach. Was spielt eigentlich Dennis?«
Karsten schaute Renate an. Sie lächelte. Es war aber kein verächtliches Lächeln. »Dennis wird in ein paar Tagen bei uns sein. Dann gehe doch mit ihm zum Fluß und spiele mit ihm. Rede mit ihm. Frage ihn selbst. Das ist viel besser, als wenn ich dir etwas erzähle, Karsten.«
»Ja, das stimmt. Ich habe viel versäumt. Dir gegenüber und auch Dennis gegenüber. Das ist mir klargeworden. Ich habe viel vergessen, verdrängt.«
»Willst du mir jetzt eine Lebensbeichte ablegen, Karsten?«
»Klingt das so?«
»Ja!«
»Ich habe niemandem zum Reden. Ich kann zwar mit Leuten sprechen. Da sind meine Mitarbeiter, meine Kunden, viele davon sind auch Freunde. Aber es gab eine Zeit, da waren wir uns nah, Renate.«
»Jetzt muß der nächste Satz beginnen mit den Worten: Weißt du noch, damals…!«
»Ja, Renate! So hat es Pfarrer Zandler gesagt. Weißt du noch damals! Ich hatte vieles vergessen. Vielleicht bleibt Männern auch nicht so viel in Erinnerung.«
»Männer erinnern sich auch gut, aber sie setzen andere Schwerpunkte in ihrer Erinnerung.«
»Ja, das stimmt wohl, Renate.«
»Ich finde, daß das nicht verwerflich ist. Eigentlich ist es doch gut eingerichtet von der Natur, daß Männer und Frauen verschieden denken und handeln. Es ist eine Art Arbeitsteilung.«
»Daraus könnte ich folgern, daß beide Arten der Erinnerung wichtig sind und zusammen als Ergänzung perfekt sein können.«
»So sehe ich das! Es kommt nur selten zu dieser perfekten Ergänzung, weil jeder Frau und jeder Mann oft darauf beharren, daß nur ihre Erinnerung richtig ist.«
»War es bei uns auch so?«
»Willst du das wirklich wissen, Karsten?«
»Ja, das will ich.«
»Gut, dann gebe ich dir ein Beispiel. Du darfst aber nicht gleich wieder wütend werden!«
»Versprochen!«
»Nehmen wir als Beispiel die alte Villa, die wir als erstes Heim gekauft haben. Ich habe davon ein ganz anderes Bild im Kopf als du. Für dich war sie alt, heruntergekommen, voller Mängel, sanierungsbedürftig bis zum letzten Dachziegel.«
Renate schaute Karsten träumerisch an. »Das war sie zweifellos. Aber ich erinnere mich an das Knarren des Fußbodens, als Dennis die ersten Schritte machte. Ich habe das Geräusch der alten Rolläden im Ohr, wie sie ratterten beim Herunterlassen. Jeder Rolladen hatte einen anderen Klang, so wie auch jede Tür anders quietschte. Das alte Treppengeländer mit seinem breiten Handlauf benutzte Dennis als Rutsche. Er spielte mit den Nachbarskindern an Regentagen Verstecken in den Abstellkammern und Wandschränken, die es dort so zahlreich gab. Die alten bunten Glasscheiben in den oberen Teilen der Türen warfen auch an trüben Tagen ein freundliches buntes Licht in den Flur. Das dunkelbraune Holz an den Wänden glänzte dann kostbar. Das Haus atmete. Es lebte. Dort fühlte ich mich nie alleine.«
Karsten hörte zum ersten Mal Renate aufmerksam zu.
»Die Regentonnen im Garten füllten sich mit dem Wasser aus der Dachrinne. Ich goß gern damit den Garten. Im Sommer war das Wasser mild und warm und weich. Ich goß oft Wasser davon in eine Wanne und Dennis planschte darin und ließ Schiffe schwimmen aus Zeitungspapier. Die Schiffe gingen unter. Das Papier löste sich auf, das Wasser wurde trüb. Er schüttete so viel Sand hinein, bis er Matsch hatte. Dann rieb er sich und seinen Freund ein und sie spielten ›Schwarzfuß-Indianer‹, wie sie es nannten.«
Renate atmete tief durch.
»Jetzt haben wir eine unterirdische