Sophienlust Extra 9 – Familienroman. Gert RothbergЧитать онлайн книгу.
dem schnellsten Weg nach Sophienlust und hoffte nur, dass ihre Mutti zufälligerweise dort war.
*
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne bahnten sich einen Weg durch die Fensterscheiben des Zimmers im Gasthof »Zum Bären«, in dem sich ein junges Paar befand. Die junge Frau stand mit dem Rücken zum Fenster und blickte auf ihren Mann, der auf dem Bett saß.
»Bitte, Axel, nimm doch Heidi und mich gleich nach Mannheim mit«, bat sie. »Du hast es mir doch fest versprochen.« In ihren schönen blauen Augen schimmerten Tränen. Aber der Mann zeigte kein Mitleid. Er sah auch nicht, wie hübsch seine Frau war. Das seidenweiche lichtblonde Haar war schlicht aus dem Gesicht gebürstet und im Nacken mit einer Spange zusammengehalten. Die kleine gerade Nase und die weichen vollen Lippen erhöhten noch den Liebreiz dieses Frauenantlitzes. Die junge Frau war groß und sehr schlank und trug einen hellbraunen Hosenanzug, der ihr vorzüglich stand. Doch all das bemerkte Axel Holsten nicht mehr.
Elisabeth war dagegen noch genauso verliebt in ihren Mann wie am ersten Tag ihrer Ehe. Er war ein schlanker stattlicher Mann mit aschblonden Haaren und graugrünen Augen. Er gehörte zu dem männlichen Typ, der die Frauen leicht schwachmachte. Schon längst bereute er, dass er seine Freiheit so früh aufgegeben hatte. Es störte ihn auch, dass Elisabeth so anhänglich war. Zugegeben, Elisabeth war bildhübsch. Aber sie langweilte ihn.
Seine dunklen Brauen zogen sich jetzt zusammen.
»Ich kann im Augenblick noch keine Familie in Mannheim brauchen. Erst einmal muss ich mich auf meinem neuen Arbeitsplatz als Werbeleiter einarbeiten. Außerdem habe ich ja auch noch keine Wohnung.«
»Aber ich könnte doch eine suchen. Ich …«
»Du!«, rief er. »Das ist unmöglich. Dich würde man nur übers Ohr hauen. Nein, nein, das mache ich.«
»Axel, ich war lange genug mit dem Kind allein in Ulm. Immer wieder hast du mir versprochen, mich nachkommen zu lassen. Auch diesmal. Hätte ich gewusst, dass du uns noch nicht haben willst, hätte ich doch unsere kleine Wohnung in Ulm noch behalten. Aber nun stehen Heidi und ich auf der Straße.«
»Unsinn!«, rief er ungeduldig und fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte Haar. »Sei doch nicht so lästig!«
»Lästig?«, fragte sie. Dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen.
»Ja, lästig!«, schrie er unbeherrscht. »Das habe ich nun davon, dass ich dich so schnell geheiratet habe. Schließlich bist du Apothekerin und hättest etwas gegen deine Schwangerschaft unternehmen können. Aber nein! Du wolltest das Kind durchaus austragen. Nun habe ich euch beide am Hals!«
»Axel, bitte, sei doch nicht so gemein«, flehte sie. »Ich liebe dich doch. Und du? Hast du nicht immer gesagt, dass du mich liebst?«
»Natürlich liebe ich dich«, lenkte er ein. »Aber deshalb lasse ich mir doch nicht meine neue Stellung verpatzen. Ich brauche in Mannheim meine Freiheit, damit ich mich auf meinen neuen Posten konzentrieren kann. So eine Chance bietet sich mir nicht so schnell ein zweites Mal. Lange genug habe ich gesucht, bis ich endlich eine Stellung fand, in der ich mich als Werbefachmann voll und ganz entfalten kann. Willst du denn, dass ich wieder so wenig wie in Ulm verdiene?« Er zündete sich eine Zigarette an. »Häng dich doch nicht wie ein Klotz an mich«, redete er sich mehr und mehr in Zorn.
Seine Worte trafen sie wie Keulenschläge. Aber es war typisch für sie, dass sie sogleich nach einer Entschuldigung für sein Benehmen suchte. Sie sagte sich, man müsse Axel mit einem anderen Maß messen als andere Männer. Er zähle nun einmal nicht zum Durchschnitt. Sein unruhiges Blut sei sicher auf seine außerordentliche Begabung als Werbefachmann zurückzuführen. Deshalb falle es ihm wohl auch schwer, sich seinen weniger begabten Vorgesetzten unterzuordnen.
Das hatte Axel veranlasst, zu kündigen. Doch seine neue Stellung würde ihm die von ihm gewünschte Freiheit bieten.
»Warum sagst du nichts?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Schau doch nicht wie eine Märtyrerin drein!«
Tief atmete sie ein und zwang sich zur Ruhe. »Axel, aber wo sollen Heidi und ich denn nun bleiben? Ich habe doch …«
»Hör endlich mit dem Gejammer auf, Elisabeth. Natürlich habe ich an euch gedacht. Heute früh habe ich mit dem Gasthofwirt gesprochen. Er vermietet ein Dauerzimmer an euch. Natürlich zu einem vernünftigen Preis. Du weißt ja selbst, dass ich nicht mit irdischen Gütern gesegnet bin.« Er zog die Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und klappte sie auf. »Hier hast du erst einmal fünfhundert Euro. Damit musst du ein Weilchen auskommen. Sobald ich Vorschuss bekommen habe, schicke ich dir Geld.«
»Du hättest mir das alles nur früher sagen müssen. In Ulm hätte ich weniger Geld benötigt. Aber du hast mir geschrieben, ich soll den Mietvertrag auf keinen Fall verlängern und die Möbel einlagern lassen. Auch der Treffpunkt hier in Maibach war allein deine Idee«, hielt sie ihm sanft vor. »Trotzdem werde ich mich bemühen, so sparsam wie möglich zu wirtschaften.«
»Hör endlich mit deinen sanften Vorwürfen auf!«, rief er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, um sich sogleich eine neue anzuzünden.
Elisabeth unterdrückte einen Seufzer. Manchmal war es wirklich sehr schwer, Axels Reaktionen zu verstehen.
Plötzlich vermisste Elisabeth ihre kleine Tochter. »Wo steckt denn Heidi?«, fragte sie. »Sie war doch eben noch hier.«
»Warum regst du dich nur so auf? Heidi ist groß genug, um auf sich selbst aufzupassen.«
»Das finde ich nicht«, erwiderte sie voller Angst. »Sie ist noch nicht einmal vier Jahre alt.«
»Sie ist bestimmt im Hof unten. Auch gestern hat sie mit den Kindern dort gespielt.«
Elisabeth öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. »Nein, Heidi ist nicht bei den anderen Kindern. Ich muss sie suchen.« Sie eilte aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Unten traf sie die Wirtin. »Frau Weinert, haben Sie Heidi gesehen?«
»Nein, Frau Holsten. Aber sie kann ja nicht weit sein«, beruhigte die mütterliche Frau sie, denn sie hatte fünf Kinder großgezogen und genug aufregende Situationen mit ihnen erlebt, die sich letzten Endes doch meist als völlig harmlos herausgestellt hatten.
»Hoffentlich.« Elisabeth ging in die Gaststube. Aber auch dort war das Kind nicht. Schließlich lief Elisabeth auf die Straße und suchte verzweifelt nach ihrer Tochter. Aber vergebens.
Axel erschien. »Hast du Heidi gefunden?«
»Nein, Axel, sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Mein Gott, sie wird doch nicht mit jemandem im Auto mitgefahren sein? Heidi ist so vertrauensselig.«
»Elisabeth, mach dich doch nicht selbst verrückt. Wir werden sie schon finden«, meinte er lächelnd.
Seine Gelassenheit war ihr unverständlich.
»Ich gehe zur Polizei«, erklärte sie und eilte schon davon.
Auf dem Polizeirevier, das sich ganz in der Nähe des Gasthofs befand, erfuhr Elisabeth dann von dem Unfall, der Heidi widerfahren war.
»Wie entsetzlich!«, rief sie erbleichend. »Sind Sie auch ganz sicher, dass ihr nichts zugestoßen ist?«
»Bestimmt nicht, Frau Holsten«, erwiderte der Polizeibeamte gütig. »Bei Frau von Lehn ist das Kind in den besten Händen. Sie hatte vor, die kleine Heidi nach Sophienlust zu bringen. Das ist ein Kinderheim.«
»Bitte, geben Sie mir die Adresse. Ich fahre sogleich hin. Fährt ein Bus dorthin? Oder ein Zug?«
»Wenn Sie wollen, kann Sie ein Streifenwagen mitnehmen. Er fährt sowieso diese Strecke.«
»Vielen Dank«, entgegnete sie und folgte dann dem Beamten in den Hof.
Als Elisabeth in dem Polizeiwagen saß, wunderte sie sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, Axel zu bitten, sie mit seinem Wagen nach Sophienlust zu fahren.
Tiefe Traurigkeit erfüllte ihr Herz. Was war nur aus ihrer Ehe geworden, die sie voller