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Der Mörder. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.

Der Mörder - Georges  Simenon


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war vollkommen betrunken. Er hätte sich auf der Erde wälzen können. Oder vor Freude schreien. Oder weinen.

      Was ihn in die Wirklichkeit zurückrief, war der Rathausplatz mit Schutters Haus und, weiter hinten, den fahlen Lichtern des Onder de Linden.

      Er sah auf die Uhr. Er war kaum eine Viertelstunde später dran, als wenn er direkt vom Zug gekommen wäre.

      Unter einer Gaslaterne sah er auf seine Hände. Weil Schnee lag, waren sie sauber geblieben.

      Er trat ein. Er wusste, welche Atmosphäre von Wärme und Behaglichkeit ihm entgegenschlagen würde. Er wusste, dass der Kellner, der alte Jef, der schon seit dreißig Jahren da war, herbeieilen würde.

      »Guten Abend, Herr Doktor.«

      »Guten Abend, Jef. Sind die Herren noch da?«

      Noch so eine Tradition! Er hörte die Kugeln rollen und aufeinander prallen, aber er fragte stets:

      »Sind die Herren noch da?«

      Worauf Jef jeweils erwiderte:

      »Schönes Wetter in Amsterdam?«

      »Es geht nichts über unser Friesland«, hatte er darauf zu antworten.

      Und er tat es. Alle Riten wurden eingehalten, wozu auch sein Eintreten in den Billardsaal gehörte, und zwar auf Zehenspitzen, weil der Architekt, in Hemdsärmeln, gerade eine Karambolage vorbereitete.

      Stummes Händeschütteln mit den anderen Spielern. Die Karambolage gelang.

      »Was macht Amsterdam?«

      »So weit gut! Die Kanäle dort sind nicht einmal zugefroren …«

      Er erkundigte sich nach dem Spielstand, während er den beiden am Billardtisch stehenden Schiedsrichtern zusah.

      »Zählt die Partie für die Meisterschaft?«

      »Aber sicher!«

      »Ich werde mich ebenfalls anmelden müssen!«, verkündete er.

      Er hatte noch nie an einer Meisterschaft teilgenommen. Es war ins Blaue hineingeredet. Er wollte irgendetwas sagen, und es drängte ihn hinzuzufügen:

      »Das nächste Mal werde ich mich ernsthaft um den Vorsitz bemühen …«

      An einer der Säulen aus dunklem Eichenholz hing die eingerahmte Tafel mit Schutters Namen in Rot und den anderen in Schwarz. Sie waren nur zu fünft in diesem behaglichen, mit polierten Möbeln und tiefen Sesseln eingerichteten Café, wo der Schaum an den Gläsern auf die Bierdeckel hinunterrann.

      Pflichtgemäß hatte man ihm sein Bier gebracht, in einem großen Kelch wie dem, von dem er gerade geträumt hatte; er trank ihn in einem Zug aus und murmelte:

      »Noch einen …«

      »Keine Neuigkeiten?«, fragte er abermals mechanisch.

      »Keine …«

      Er hatte seine Mappe auf einem Tisch abgelegt. Normalerweise blieb er eine Viertelstunde, bevor er nach Hause ging, in der nahen Straße am alten Kanal.

      Vom Kino nebenan war leise Musik zu hören; man hatte deswegen eine Eingabe verfasst, denn sie störte manche Spieler.

      Plötzlich lächelte Kuperus in sich hinein. Ihm fiel ein, dass niemand sich darüber gewundert hatte, ihn an einem Dienstag statt am Mittwoch zu sehen. Denn am ersten Dienstag im Monat konnte er ja gar nicht hier sein!

      Er hatte sie hinters Licht geführt! Man hatte ihn gesehen und dabei gedacht:

      ›Mittwoch!‹

      Er trank das zweite Glas und verlangte einen Genever.

      »Ich habe Neuralgien …«, rechtfertigte er sich.

      Warum sich in die grausame Wirklichkeit zurückstoßen lassen? Es war besser, sich vorzustellen, dass er gleich nach Hause zurückkehren und seine Frau dort nicht antreffen würde. Das Dienstmädchen Neel würde ihm aufmachen.

      Im Nachthemd! Das war fast sicher, denn da sie ihn nicht erwartete, hatte sie sich um diese Zeit längst hingelegt.

      Er hatte sie schon im Nachthemd gesehen. Angefasst hatte er sie noch nie, wegen der möglichen Komplikationen …

      Aber jetzt?

      Vielleicht am nächsten, jedenfalls aber am übernächsten Tag würde man ihn sowieso verhaften! Er hatte nichts zu verlieren!

      ›Heute Nacht wird es geschehen‹, nahm er sich vor.

      Und er dachte so heftig daran, dass er fürchtete, halblaut gedacht zu haben.

      »Kuperus! …«, rief jemand.

      Er sollte bei einem verwickelten Coup den Schiedsrichter spielen. Tröge voll warmer Asche unter den Billardtischen sorgten dafür, dass das Holz nicht arbeitete.

      »Kees behauptet, sein Partner hätte …«

      Er hatte das Spiel nicht verfolgt. Er ließ sich das Vergnügen nicht entgehen, die vorgelegte Frage gegen den gesunden Menschenverstand zu entscheiden. Außerdem war Kees ein Freund Schutters!

      »Kees hat unrecht … Ich komme oft genug nach Amsterdam, und dort würde man sich über einen Coup wie diesen hier gar nicht erst streiten.«

      Kees hatte unrecht und fiel in der Meisterschaft um drei Plätze zurück.

      Das war ein erster Sieg!

      »Gute Nacht … Meine Frau wird sich schon Gedanken machen …«, gelang ihm zu behaupten.

      Sie alle waren derart behext, dass sie weiterhin glaubten, es sei Mittwoch und seine Frau warte tatsächlich auf ihn …

      Während Doktor Kuperus draußen die Zugbrücke überquerte, dachte er nur noch daran, wie Neel ihm die Tür öffnen würde, im Nachthemd, den braunen Mantel über die Schultern geworfen und ganz sicher barfuß!

      2

      Kuperus hatte schon erlebt, an Bord eines Schiffes zu erwachen, unter anderem während einer Kreuzfahrt nach Spitzbergen, und beim ersten Mal hatte er, als er seine Augen öffnete, das Gefühl der Orientierungslosigkeit genossen, hatte sich immer wieder gesagt, dass er sich auf hoher See befand und an Bord eines Linienschiffes dem Eismeer entgegenfuhr.

      Was sollte er von dem jetzigen Abenteuer halten? Es musste sieben Uhr sein, denn es wurde allmählich hell, und man hörte schon die Arbeitslosen Schnee von den Gehsteigen schippen. Kuperus schlug die Augen nicht ganz auf: Gerade so viel, um das vertraute Grau in Grau des Zimmers, seines Zimmers, in sich aufzunehmen.

      Er hörte ganz nah bei sich ein Atmen. Jemand schlief, und dieser Jemand war nicht Alice Kuperus, sondern Neel, das Dienstmädchen! Es war Neels warmes Bein, das sein Bein berührte!

      Was war nur aus seiner Welt geworden? Von nun an konnte Kuperus jeden Tag und jede Nacht Neel bei sich haben, oder jedes Mal eine andere Neel …

      Er fragte sich, was sie tun würde. Würde sie die Gelegenheit nutzen und sich einen ausgedehnten Vormittagsschlaf gönnen? Oder würde sie sich wie gewöhnlich verhalten?

      Ihr Atemrhythmus änderte sich; sie stieß einen Seufzer aus, streckte einen Arm aus und machte Bewegungen, als wollte sie sich noch tiefer in die Decken verkriechen, doch bald streckte sie das eine Bein aus dem Bett, dann das andere.

      Sicher bewegte sie sich nicht anders als sonst, wenn sie in ihrer Mansarde erwachte. Sie wirkte unausgeschlafen mit ihren trüben Augen und ihrem trägen Fleisch. Sie sah Kuperus an, der sich schlafend stellte, setzte sich auf den Bettrand, begann ihre Strümpfe und einen Hüftgürtel anzuziehen.

      Ohne sich zu waschen, ging sie schließlich hinaus, und er hörte, wie sie in der Küche Feuer machte und dann den Kaffee zubereitete.

      Alice Kuperus, sie war ein für alle Mal tot! Schutter war tot!

      Wusste Neel von ihrem Verhältnis? Als er am Vorabend nach Hause gekommen war, hatte er sie, und er


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