Der Tempel der Drachen. Frank RehfeldЧитать онлайн книгу.
dem das Schicksal die schlimmste Form der Einsamkeit auferlegt hatte: Das Alleinsein inmitten anderer Menschen. Daran änderten auch die Ereignisse des vergangenen Abends nichts, denn schließlich wusste niemand davon; sie halfen nur ihm selbst, sein Los etwas leichter zu ertragen.
Er hatte kaum geschlafen und war dementsprechend müde. Bis tief in die Nacht hatte er mit Maziroc zusammengesessen und geredet, aber dennoch war seine Neugier noch längst nicht vollends gestillt. Immer noch waren zahlreiche Fragen offengeblieben, und als er von dem Magier weit nach Mitternacht schließlich in seine Kammer geschickt worden war, hatte er keinen Schlaf gefunden, sondern noch lange wach gelegen und über alles nachgegrübelt.
Die Sonne schien an diesem Tag nur fahl vom Himmel und spendete wenig Wärme; die meiste Zeit blieb sie hinter einem dunstigen Wolkenschleier verborgen. Das triste Wetter entsprach weitgehend Aylons Stimmungslage. Ein beklommenes Gefühl ergriff ihn, als er durch das große Südtor ritt. Es war das erste Mal, dass er Cavillon für längere Zeit verließ, bislang hatte er höchstens kurze Ausflüge in die unmittelbare Umgebung unternommen. Die Stadt aus weißem Marmor war niemals eine wirkliche Heimat für ihn gewesen, eher war sie ihm als Gefängnis erschienen, aber er war immerhin hier aufgewachsen und hatte sein ganzes bisheriges Leben innerhalb ihrer Mauern verbracht. Der Abschied fiel ihm längst nicht so leicht, wie er geglaubt hatte. Vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, rührte das Gefühl vager Trauer daher, dass er mehr als nur irgendeine Reise unternahm. Er ließ nicht einfach nur ein paar Häuser und Mauern zurück, sondern zugleich auch seine Kindheit und Jugend. Sie war nicht gerade unbeschwert gewesen, aber doch weitgehend frei von Sorgen und Not. Die Welt, in die er nun hinauszog, markierte den Beginn eines neuen, noch ungewissen Abschnitts in seinem Leben.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, es nicht zu tun, blickte er nach einiger Zeit über die Schulter zurück. Von Weitem sah Cavillon noch prachtvoller und beeindruckender aus, als aus der Nähe. Auf dem höchsten Turm flatterte das Banner mit dem Regenbogensymbol, dem Wahrzeichen der Ishar. Der Anblick hob Aylons Stimmung ein wenig, erinnerte ihn daran, dass er im Anschluss an seine Rückkehr die Magierweihe erhalten und damit zu einem vollwertigen Mitglied des Ordens werden würde.
"Warum gerade ein Regenbogen?", wandte er sich an Maziroc. Als Stickerei prangte das Zeichen auch auf dem grünen, mantelähnlichen Umhang des Magiers.
"Als Symbol für die Brücke, die durch das Nichts zwischen den Welten zur Dämmerschmiede führt", erklärte er. "Nach ihr hat Charalon auch den Orden benannt, denn das Wort Ishar entstammt einer alten Sprache und bedeutet nichts anderes als Regenbogen. Aber jetzt tu mir einen Gefallen und verschone mich eine Weile mit weiteren Fragen."
Aylon nickte ergeben. Einige Stunden lang ritten sie in südwestlicher Richtung. Blühende Wiesen und schattige Wälder säumten ihren Weg. Das Land war fruchtbar, aber dennoch weitgehend unberührt. Im Norden Cavillons, am Fuße des Kamos-Gebirges, lebten einige Jäger mit ihren Familien, ansonsten jedoch schienen die Menschen die Nähe des Klosters zu meiden. Solange sie die wahre Geschichte Cavillons nicht kannten, mochte es ihnen wie ein unverwüstliches Hoffnungssymbol erscheinen, in dessen Mauern sie Rettung finden konnten, falls die Damonen oder irgendwelche anderen Feinde jemals bis hierher vordringen sollten, trotzdem scheuten sie offenbar davor zurück, sich in seiner direkten Umgebung niederzulassen.
Erst gegen Mittag zeigten sich Spuren von menschlicher Besiedlung. Das Grün der Wiesen wich goldenen Kornfeldern und dem Braun bereits abgeernteter Äcker, gelegentlich entdeckte Aylon zwischen den Hügeln die Dächer vereinzelter Gehöfte. Feldarbeiter, an denen sie vorbeikamen, grüßten ehrerbietig, als sie das Wahrzeichen der Ishar auf Mazirocs Mantel erkannten.
Mit jeder verstreichenden Stunde fiel es Aylon schwerer, sich aufrecht im Sattel zu halten. Er war bereits öfters geritten, allerdings immer nur kurze Strecken, und obwohl sie nur gemächlich dahintrabten, tat ihm der Rücken weh. Mit einem Seufzer der Erleichterung glitt er vom Pferd, als Maziroc auf der Kuppel eines Hügels endlich in eine Rast einwilligte, band es an einem Baum fest und machte einige Lockerungsübungen, um seine verkrampften Muskeln zu entspannen. Nur wenige Schritte entfernt entsprang zwischen zwei Felsen eine Quelle. Aylon trank und wusch sich das Gesicht mit dem kühlen, kristallklaren Wasser, bevor er aus dem Proviantbeutel in seinen Satteltaschen einige Scheiben kalten Braten nahm und auch seinen Hunger stillte. Maziroc aß ebenfalls, anschließend klopfte er sich ein paarmal zufrieden mit der Hand auf den Bauch und streckte sich im Gras aus. Seine Haltung machte deutlich, dass er sich nicht unterhalten und sich vor allem nicht mit weiteren Fragen löchern lassen wollte.
Aylon verstaute seinen Proviant wieder und lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsen. Von hier oben aus hatte man eine fantastische Aussicht. Er ließ seinen Blick über das Tal schweifen. Alles bot ein so friedliches Bild, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass nur wenige hundert Meilen weiter im Süden grausame Kriege tobten.
Gedankenverloren spielte er mit dem Reif an seinem Handgelenk. Inzwischen hatte er sich an das sanfte Pulsieren gewöhnt und nahm es kaum noch wahr. Trotzdem war ihm das Skiil unheimlich. Es schien wie eine lautlose Stimme in seinem Geist zu wispern, keine Worte, oder wenn, dann solche, die er nicht verstand, und die seinem Gedächtnis sofort wieder entglitten, sodass nicht mehr als ein flüchtiger Eindruck zurückblieb. Ein paarmal hatte er versucht, den Reif abzustreifen, nicht weil er ihn loswerden wollte, sondern nur um zu sehen, ob er sich überhaupt davon trennen konnte, doch vergebens. Auch schreckte er noch davor zurück, sich allzu intensiv damit zu befassen. Maziroc hatte behauptet, ihm nichts über die Kräfte des Reifs sagen zu können, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Aylon spürte, dass der Magier etwas darüber wusste, aber er begriff auch, dass er zumindest gegenwärtig nicht mehr erfahren würde. In der vergangenen Nacht hatte er bereits mehr über die wahre Vergangenheit und die Geheimnisse des Ordens gehört, als in den gesamten Jahren seines Studiums. Einiges war ihm nur ansatzweise bekannt gewesen, vieles gar nicht, und er hatte wie ein Schwamm alles gierig in sich aufgesogen, aber die geballte Menge des neu erworbenen Wissens ließ ihn auch jetzt noch schwindeln. Es bedeutete Macht und damit auch Verantwortung; in den falschen Händen konnte es zu einer furchtbaren Waffe werden.
Ein dunkler Punkt, der über dem Horizont träge am Himmel dahinglitt, erregte seine Aufmerksamkeit. Im ersten Moment hielt Aylon das Tier für einen Adler oder einen anderen Raubvogel, aber dann erkannte er, dass nur die Entfernung ihn narrte, und der Punkt wesentlich größer als ein normaler Vogel sein musste.
"Maziroc?"
Mit einem unwilligen Laut richtete sich der Magier auf. "Was ist?"
"Siehst du das Tier da hinten?" Aylon deutete mit der Hand in Richtung des schwarzen Punktes. "Es scheint gewaltig zu sein. Was ist das für ein Wesen?"
Der Magier kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schirmte sie mit der Hand ab, dann zuckte er mit den Schultern. Er griff nach einem Ring an einem seiner Finger und streifte ihn ab. Er bestand aus purem Gold, aber Aylon wusste, dass es sich um etwas weit Kostbareres als nur ein Schmuckstück handelte. Ein Skiil. Er hatte es bereits einige Male in Mazirocs Arbeitszimmer gesehen und kannte seine Funktion. Es ließ Entfernungen vor den Augen seines Besitzers schrumpfen. Maziroc schaute hindurch und suchte den Himmel einige Sekunden lang ab.
"Ein geflügelter Damon", stieß er hervor. Als er den Schrecken auf Aylons Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: "Nur eine Dienerkreatur, nicht mehr als ein Tier. Aber mich wundert, dass er sich so weit in den Norden wagt. So nah an Cavillon ist bislang noch nie ein Damon gesichtet worden."
Aylon schauderte. Auch er hatte bislang nur von den Damonen gehört, aber noch niemals selbst einen gesehen. Er warf einen scheuen Blick auf das Skiil, doch es würde ihm nichts nutzen, selbst wenn Maziroc ihm den Kristall gäbe. Umfangreiche Vorbereitungen waren nötig, um sich der magischen Kraft eines Skiils zu bedienen. Es war auf einen Träger fixiert, mit dem es eine symbiotische Verbindung einging, die sich nur mühsam herstellen ließ. Er wandte sich wieder dem Damon zu. "Er scheint etwas zu suchen."
"Vielleicht." Noch einmal hob Maziroc den Kristall vor sein rechtes Auge. "Auf jeden Fall kommt er näher. Wir müssen auf der Hut sein. Es ist besser, wenn wir weiterreiten."
"Kann er uns gefährlich werden?"
"Lass uns aufbrechen",