Mami Staffel 11 – Familienroman. Edna MeareЧитать онлайн книгу.
mögen.
»Ich verspreche dir«, fuhr Astrid fort, »dich mehrmals in der Woche zu besuchen, wenn du wieder in München bei deinem Vater bist. Wirst du dann zu ihm zurückgehen?«
Claudia hob den Kopf und sah sie an. Nach einer Weile nickte sie. »Ja, aber nur deshalb.«
»Das muß aber unser kleines Geheimnis bleiben.« Astrid schmunzelte.
»Ich hasse Geheimnisse!«
»Ich auch, Claudia. Aber nur noch wenige Monate, und du wirst wieder fest und ganz ohne fremde Hilfe auf beiden Beinen stehen. Damit beginnt ein neues Leben für dich. Und alle kleinen und großen Geheimnisse sind dann bedeutungslos. Glaubst du mir?«
»Überhaupt nicht!« platzte es aus Claudia heraus.
»Gut, gut«, beruhigte Astrid sie. »Trotzdem, meine Gedanken werden immer bei dir sein. Das glaubt du mir doch?«
»Ja«, flüsterte Claudia und schmiegte sich in ihre Arme, um schnell die Augen zu schließen, als könnte sie wieder ins Dunkel abtauchen.
*
Den langen Wintermonaten folgte ein herrlicher Frühling. Als sich die Osterferien näherten, konnte Fabian Ossiander tatsächlich sein fast gesundes Töchterchen zu sich holen. Daß er das auch der Überredungskunst von Astrid Hoffmann verdankte, sollte er nie erfahren.
Er hatte von sich aus alles getan, um Claudia die Heimkehr und den Anfang eines neuen Lebens zu versüßen. Die große Villa war renoviert und teilweise neu möbliert worden. Der große Flügel stand jetzt in einem Raum, den Ossiander ganz für sich beanspruchte, so daß er nicht gleich ins Auge fiel und Claudia an die ungeliebten Klavierstunden erinnerte.
Zu dem kleinen Salon neben Claudias Zimmer, den Annalena immer als ihr Reich bezeichnet hatte, war eine Öffnung geschlagen worden. So verfügte Claudia nun über einen eigenen Wohnraum, in dem sie schalten und walten konnte, wie sie wollte. Damit sie mit ihren neuen Mitschülern bald Freundschaft schließen und sie oft um sich haben konnte, ohne sich allzuviel Gastgeberpflichten aufzuladen, hatte Fabian eine neue Hausangestellte engagiert, die oben unter dem Dach wohnte und Claudia rund um die Uhr betreuen sollte.
Lisa war für alle ein Glücksfall. Jung und unbekümmert, stürzte sie sich voller Eifer auf ihre neue Aufgabe. Das fiel ihr besonders leicht, weil sie Annalena Ossiander nie kennengelernt hatte und nicht von der Erinnerung an sie verunsichert wurde. Nach einigen Wochen, die Claudia brauchte, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen, begann für sie der Ernst des Lebens in der neuen Klasse. Fabian, der sein Versprechen hielt und sich nicht mehr so viele Termine wie sonst auflud, brachte sie persönlich in die Schule.
Das war ein kluger Schachzug von ihm. Denn Claudias neuer Klassenlehrer bat den Dirigenten gleich, die Schüler zu einem Lied zu überreden. So stand Fabian vor der Klasse und dirigierte die Schar fröhlicher Kinder mit dem Zeigestock von der Tafel. So ungeschickt, wie er sich absichtlich anstellte, sorgte das für allgemeine Heiterkeit. Das Eis war gebrochen, Claudia, als seine Tochter, fand sich schnell in der neuen Gemeinschaft zurecht, obwohl sie doch als »Sitzengeblieben« galt.
Schon Tage später lud sie einige ihrer neuen Freundinnen zu sich. Silke und Nora, ihre engsten Vertrauten, kamen auch dazu. Lisa servierte auf der Terrasse Eiskaffee und Kartoffelsalat mit Würstchen. Claudia, die die junge Frau recht gern hatte, half gegen Abend sogar mit, das Geschirr wegzuräumen. Nur Tanja, ein besonders nettes Mädchen aus ihrer Klasse, wollte sie davon abhalten.
Claudia drohte ihr mit dem Stock, den sie manchmal noch benutzen mußte, und brachte damit alle zum Lachen.
Eine halbe Stunde später, es war noch hell, ging aber schon auf halb acht, komplimentierte Lisa die junge Schar hinaus. Sie hatte Claudias Vater versprochen, immer darauf zu achten, daß sich die Elfjährige nicht überanstrengte.
Nur Silke durfte noch bleiben. So saßen die beiden Mädchen in der ersten Dämmerung auf der Terrasse und hatten sich viel zu erzählen. Wieder mußte Lisa einschreiten. Aber Claudia bestand darauf, ihre Freundin zu Gartentor bringen zu dürfen. Dagegen wagte Lise nichts einzuwenden. Sie wußte schon, daß ihr kleiner Schützling sich vehement gegen allzuviel Fürsorge zu wehren wußte.
»Bald kommst du wieder zu mir und wir springen auf dem Trampolin herum, nicht?« schlug Silke vor und hakte ihre Freundin unter, als sie die Stufen hinuntergingen.
»Das kann ich noch nicht.«
»Aber bestimmt bald. Hat deine Freundin Astrid es dir nicht versprochen?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Claudia gleichgültig. Silke sah sie an. War die Freundschaft mit der jungen Ärztin etwa eingeschlafen?
»Aber sie kommt doch zu dir?«
»Klar. Wenn Papa auf Reisen ist. Aber der ist ja oft hier.«
»Ich denke, heute ist er in Leipzig.«
»Ja, kommt aber morgen schon wieder.«
»Freust du dich denn nicht, wenn er viel Zeit für dich hat?«
»Ach, Mensch, Silke«, murrte Claudia. »Wenn er da ist, kommt Astrid nie. Warum ist er dann so oft da, wenn ich sie deswegen nicht sehen kann?«
»Mußt eben mal mit denen reden.«
»Quatsch!«
Silke schwieg. Wie alle Altersgenossen behandelte sie Claudia wie ein rohes Ei. Zu schmerzhaft hatte sie ihr Schicksal in das Bewußtsein der Freunde eingegraben.
»Bis morgen auf dem Schulhof«, verabschiedete sie sich, umarmte Claudia und stieg auf ihr Fahrrad, das neben der Gartentür lehnte. »Geh bloß rein zu Lisa, damit du dich nicht erkältest.«
Claudia entgegnete nichts, sie lächelte nur geistesabwesend und blieb am Tor stehen, bis Silke winkend um die nächste Straßenecke entschwunden war.
Und dann, als sie sich unbeobachtet fühlte, packte sie den Stock fester und entfernte sich, so schnell es ihr gelang, in die entgegengesetzte Richtung. Dabei sah sie sich mehrmals um, bis sie in eine nächste Straße einbog und nun gemächlicher auf die kleine Kirche des Vororts zuging.
Seit Tagen hatte sie sich gewünscht, endlich einmal ohne ihren Vater am Grab ihrer Mutter zu stehen. Sie brannte darauf, dem geliebten Menschen in einem Zwiegespräch nahe zu sein und ihrer Mama zu versichern, daß ihr gemeinsames Geheimnis gut bei ihr aufgehoben sei. Sie wollte ihr auch aufrichtig versichern, daß sie ihrem Vater zur Seite stehen und ihn trösten konnte, weil er sich jetzt doch manchmal Zeit für sie nahm.
Claudia bemühte sich tatsächlich, Verständnis für Fabian aufzubringen, wie Astrid es ihr geraten hatte. Und weil sie so leichter in ihr neues Leben gefunden hatte, fiel ihr das nicht mal schwer.
Die ersten warmen Tage hatte alles mit frischem Grün beschenkt. Stare und Drosseln sangen um diese Zeit um die Wette, und weil sie auch ohne Stock recht schnell vorankam, lächelte sie verschmitzt.
Sie näherte sich dem Grab ihrer Mutter, versuchte aber, den Steinen auf dem Weg auszuweichen. Vor nichts fürchtete sie sich mehr, als mit dem linken Fuß gegen einen Gegenstand zu stoßen. Dann geriet sie oft in einen stockenden Bewegungsablauf, und prompt zog es wieder bis in ihre Hüfte.
Nach einigen Metern wurde der Weg wieder eben. Sie sah voraus und bemerkte eine hohe Gestalt vor dem Grab. Es war ein Mann, der ihr den Rücken zuwandte, aber sie erkannte ihn sofort.
»Wolfgang!«
Wolfgang Bosch fuhr herum. Er hielt einen Strauß aus rosefarbenen Rosen in der Hand. Claudia sah den Strauß und blieb erschüttert stehen. Wolfgang brachte ihrer Mutter Rosen! Hieß das nicht, daß er ihre wunderbare Mama auch nicht vergessen konnte und sie immer noch liebte? Dann war das Schicksal nicht ganz so sinnlos mit ihnen verfahren!
»Claudia…«, das klang gepreßt aus seinem Mund. Er hatte nicht damit gerechnet, Annalenas Tochter zu begegnen. Und der Stock in ihrer Hand machte ihm auf erschreckende Weise bewußt, was sie durchgemacht haben mußte.
Er ging auf sie zu und griff nach ihrer freien Hand.