Die Propeller-Insel. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
einer unveränderlichen Linie zu folgen – wenn sich’s aber um die Freiheit handelt, bestehen die Bürger des freien Amerika unerschütterlich auf ihrem Scheine.
Glücklicherweise haben die Elektrotechniker so große Fortschritte in ihrem Fache gemacht, dass man von der Elektrizität, der Seele des Weltalls, so gut wie alles verlangen kann. Ihr fiel daher auch die Aufgabe zu, die künstliche Insel fortzubewegen. Zwei Anlagen genügen, Dynamos von fast unbegrenzter Leistungsfähigkeit, die elektrische Energie in Form eines Gleichstromes von zweitausend Volt liefern, in Bewegung zu setzen. Diese Dynamos wirken auf ein mächtiges System von Propellern, die in der Nähe beider Häfen angebracht sind. Sie entwickeln jedes fünf Millionen Pferdekraft – dank den Hunderten von Kesseln, geheizt mit Petroleum-Briketts, die weit weniger Raum einnehmen und weniger rußen als Steinkohlen, zugleich aber viel mehr Wärme entwickeln. Die betreffenden Werke unterstehen der Leitung der beiden Hauptingenieure, der Herren Watson und Somwah, denen zahlreiche Mechaniker und Heizer zur Seite stehen, während die Oberleitung in den Händen des Kommodore1 Ethel Simcoë ruht. Von seiner Amtswohnung im Observatorium aus steht der Kommodore mit den beiden Elektrizitätswerken in telefonischer Verbindung. Er bestimmt nach dem vorher festgestellten Reiseplane den Kurs der künstlichen Insel. Von da war auch in der Nacht vom 25. zum 26. der Befehl ausgegangen, mit Standard Island die Küste Kaliforniens anzulaufen, in deren Nähe es sich zurzeit des Antritts seiner jährlichen Reise eben befand.
Wer von unseren Lesern sich nun im Geiste darauf mit einschifft, der wird den verschiedenen Vorkommnissen auf dieser Fahrt über den Stillen Ozean mit beiwohnen und es hoffentlich nicht zu bereuen haben.
Wir fügen hier ein, dass die größte Geschwindigkeit Standard Islands, wenn seine Maschinen ihre zehn Millionen Pferdekraft entwickeln, acht Knoten (zwei geographische Meilen) in der Stunde erreicht. Die gewaltigsten Wogen, die der Sturm aufwühlt, haben auf die Insel keine Wirkung. Durch ihre Größe entgeht sie jedem Schwanken vom Seegange, und deshalb gibt es darauf auch keine Seekrankheit. Während der ersten Tage »an Bord« empfindet man höchstens ein schwaches Erzittern, dass die Rotation der Schrauben im Unterbau hervorbringt. Mit einem Sporn von sechzig Metern am Vorder- und am Hinterteile ausgerüstet, zerteilt die Insel die Wellen ohne Schwierigkeit und durchläuft die ungeheure Meeresfläche ohne jeden fühlbaren Stoß.
Natürlich dient die in den beiden Werken erzeugte elektrische Energie außer der Fortbewegung von Standard Island auch noch anderen Zwecken. Mit ihr werden Land, Park und Stadt erleuchtet. Sie unterhält hinter den Riesenlinsen der Leuchttürme die mächtige Lichtquelle, deren Strahlen die Anwesenheit der Schraubeninsel bis weit hinaus verkünden und jeder möglichen Kollision vorbeugen. Sie liefert die verschiedenen Zweigströme, die telegrafischen, telephotischen, telautographischen und telefonischen Zwecken dienen, ebenso, wie sie die Bedürfnisse der Privathäuser und der Handelsquartiere befriedigt. Sie versorgt auch die künstlichen Monde von je fünftausend Kerzen Leuchtkraft, die jeder eine Kreisfläche von hundert Meter Durchmesser erhellen.
Zurzeit, von der wir reden, befindet sich dieses außergewöhnliche Bauwerk auf seiner zweiten Reise über den Großen Ozean. Vor einem Monate hatte es die Madeleinebai verlassen und sich nach dem fünfunddreißigsten Breitengrade begeben, um seine Fahrt, etwa in der Höhe der Sandwich-Inseln,2 anzutreten. Eben befand es sich nahe der Küste von Nieder-Kalifornien, als Calistus Munbar durch telefonische Mitteilung erfuhr, dass sich das Konzert-Quartett nach der Abreise von San Franzisko nach San Diego begeben wollte, und ihm der Gedanke kam, sich dieser hervorragenden Künstler für die Dauer der Reise sozusagen zu bemächtigen. Wir wissen schon, wie er das ausführte, wie er sie auf der, nur wenige Kabellängen von der Küste verankerten Schraubeninsel einschiffte, und wie infolge seines gelungenen Streichs den Dilettanten von Milliard City der Genuss einer vorzüglichen Kammermusik in Aussicht gestellt war.
Das ist also jenes neunte Weltwunder, jenes des zwanzigsten Jahrhunderts würdige Meisterstück menschlichen Geistes, dessen unfreiwillige Gäste zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncell sind und die Standard Island nach den westlichen Teilen des Pazifischen Ozean entführt.
1 Führer eines Geschwaders bei der Kriegsmarine <<<
2 Die Südlichen Sandwichinseln sind eine Inselkette im subantarktischen Südatlantik. <<<
Sechstes Kapitel – Eingeladene … Inviti
Wenn man auch annehmen darf, dass Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat Leute waren, die über nichts erstaunten, so wurde es diesen doch schwer, in gewiss begründetem Unwillen dem Calistus Munbar nicht an die Kehle zu springen. Es soll einer nur in dem Glauben leben, auf dem Boden des westlichen Amerika umherzuwandeln, und dann erkennen, dass man ihn aufs hohe Meer hinausbefördert! Man soll sich für einige zwanzig Meilen von San Diego entfernt halten, wo man am nächsten Tage zu einem Konzert erwartet wird, und dann ganz schlankweg hören, dass man auf einer schwimmenden Insel immer weiter davon hinwegtreibt! Wahrhaftig, ein Überfall wäre zu verzeihen gewesen.
Zu seinem Glücke hatte sich der Amerikaner einem solchen ersten Wutausbruche zu entziehen gewusst. Sich die Überraschung oder richtiger die Verblüffung des Konzert-Quartetts zunutze machend, verlässt er die Plattform des Turmes, betritt den Fahrstuhl und ist damit vorläufig vor den Vorwürfen und etwaigen Handgreiflichkeiten der vier Pariser geschützt.
»Solch ein Schurke!« ruft das Violoncell.
»Solch ein Untier!« fällt die Bratsche ein.
»Oho … wenn wir’s ihm zu verdanken haben, ein reines Wunder kennenzulernen …«, lässt sich die erste Violine vernehmen.
»Du willst ihn doch nicht gar noch entschuldigen?« meint die zweite Geige.
»Hier gibt’s keine Entschuldigung«,