Der Heidekönig. Max GeißlerЧитать онлайн книгу.
mehr. Den Leuten im Dorfe fiel das Bild des Matheis Maris sacht aus den Gedanken. Aber einigemal im Herbste, da ging er eine Woche lang an jedem Tage zu Mutter Flossy oder er blieb auch über Nacht — wenn er wieder auf der Flucht vor sich selber war.
Die Welt, die ein paar Monate im Schlafe gelegen und ein paar Wochen eingefroren gewesen war, krachte vor Seligkeit in allen Fugen. Dem Matheis Maris im Paradies erging es ähnlich. Und als ihm Mutter Flossy ein Stück Osterkuchen in eine Zeitung gewickelt herausschickte, das diesmal nicht Pieter Bosboom brachte, sondern ein Heidegänger, da merkte er, dass er im Winter heisshungrig geworden war nach dem Lande der Menschen ... Man weiss, wie freundlich er sich dies Land zu malen wusste! Es gelang ihm auch damit, dass er es hineinsetzte in das Herz Gottes und solange daran herumsann, bis es ihm zu einer fast unirdischen Vollkommenheit gedieh.
Pieter Bosboom hatte wohl ungeheuer viel Arbeit — sonst wäre er selbst gekommen. Nun ja, die Erde zeigte in diesen Tagen, dass sie das Wundertun nicht verlernt hatte. Und der liebe Gott sass irgendwo auf einem Sonnenhügel, streckte die Hand aus und sagte: »Es werde Licht! Es fülle sich die Erde mit Blumen und Kräutern!« Und wie er gebot, so stand es da.
Darüber hinaus dachte Matheis Maris: ob es nicht angezeigt wäre, die grossen Zibeben aus Mutter Flossys Osterkuchen gleich herauszupicken ... Auf einmal, da sprang ihm aus dem zerknitterten Zeitungsblatt ein Name mitten ins Auge: Alma Tadema! Er sei im Haag eingetroffen, einen Auftrag des Königs für seine Sammlungen auszuführen.
Kein Lebendiger ist imstande zu ahnen, wie die wohlgeordnete Inneneinrichtung des Matheis Maris über dieser Zeitungsnachricht durcheinanderstürzte. Nur das eine blieb stehen, dass er unverzüglich reisen müsse. Der Plan, Alma Tadema in Antwerpen aufzusuchen, hatte in seiner Grösse etwas Entmutigendes für den Menschen, der die Welt von einem Ende des Himmels bis zum anderen von seinem Sandhügel aus übersehen konnte. Aber nach dem Haag?
Sogar den für einen Bauernsohn unerhört frevlen Gedanken erwog er, ob er nicht, um im Geheimen reisen zu können — die Stalltüren öffnen und seinen Tieren, die ihn über Winter so treu versorgt hatten, die Freiheit geben sollte. Doch hätte er sie auf diese Weise dem Raubzeug ausgeliefert. Die Falken würden die Hühner unter sich teilen, dachte er; das gierige Frettchen werde sich an dem warmen Blute der Kaninchen berauschen, und der Fuchs, der seine Burg keine drei Steinwürfe weit hinter dem Sandhügel erbaut hatte, der Rotfuchs werde der weissen Ziege ein paar Tage hintereinander das Leben stückweis aus dem Leibe reissen. Matheis Maris war bei der Fuchsenfamilie zwar manch heimliche Sonnenstunde zu Besuch gewesen. Aber bis zur mitleidlosen Auslieferung der weissen Ziege ging die Freundschaft nun doch nicht.
So stellte sich heraus, dass sein Plan, ganz insgeheim zu dem Meister zu reisen, der über sein Schicksal entscheiden sollte, unausführbar sei, jetzt und künftig. Da aber doch etwas geschehen musste, nahm er die Bildertafeln von den Wänden und verpackte sie in seinem Rucksack. Dann lockte er die Hühner in den Stall und warf ihnen Körner zu für einen Tag. Er versorgte die Kaninchen mit Heu. Er zog seinen Sonntagsanzug an, setzte die schwarze Schirmmütze auf, schloss Tür und Laden. Zuletzt nahm er die weisse Ziege an die Hand und trieb sich aus dem Paradiese. Noch keine zwanzig Schritte war er von der Hütte entfernt, da rief es hinter ihm. „Matheis Maris!“ So deutlich, dass er erschrak. — Aber es war niemand da.
Pieter Bosboom, der in den Kulturen war, als er ihn mit der Ziege des Weges kommen sah — Pieter Bosboom putzte sich die Augen. „Mensch, was ist das mit dir? Es sind ja alle Lichter an dir ausgegangen! ...“
„Wohl, wohl,“ sagte Matheis Maris, „es ist ja auch ein grosser Sturm im Land.“ Dann erklärte er ihm, wie er das meinte. Pieter Bosboom tat einen schweren Pfiff und zog sich die schwarze Schirmmütze fester auf die Ohren. „Wenn das ist!“
Danach kam Matheis zu Mutter Flossy und übergab ihr den Schlüssel zu seiner Hütte und sagte ihr, wie es um das Vieh stünde und was zu geschehen habe, wenn er bis morgen abend nicht zurück sei. — Pieter Bosboom kam auch noch einmal herzu; denn es war Matheis wohl anzumerken: er hatte sich nicht so fest in den Händen wie sonst. „Du musst dir das nun nicht leid sein lassen, Matheis Maris! Wenn du den Kampf mit der Einsamkeit bestanden hast, warum fürchtest du dich vor dem Manne ... na, wie heisst er doch?“
„Matheis Maris!“ antwortete er gefasst, wandte sich ab und ging seinen Weg. Aber zuerst fuhr er nach Utrecht, wo er seinen Bruder Jakob traf. Es sah fast aus, als wollte er dem Wagen seines Schicksals noch einmal in die Räder fallen. Doch hatte er sich nun wieder gut zusammen und sagte: „So, und nun will ich auch noch zu Willem nach Amsterdam — es geht in einem hin.“
Er war schon sechs Tage unterwegs, da hatte er noch nicht ein Viertel des Geldes verbraucht, das er zu dieser Reise gespart hatte; denn er war nicht gewöhnt, seine Sinne immer mit etwas Neuem aufzukitzeln. Er trank weder Bier noch Wein und befand sich an den bescheidensten Gaststätten wohl, wo einer für ein paar Cents essen kann. Die Herrschaft über sein Geld half auch seinem Mute wieder ordentlich auf.
So ging er einmal auf der breiten Strasse zum Bahnhof. In Amsterdam. Als er auf den Stationsplatz kam, an den gleich rechter Hand östliches Dock, Dijksgracht und Binnenhafen sich anschliessen, da war wiederum des Schauens kein Ende: wie sie die Schiffe tauten, Ladung löschten oder verstauten, wie ein Kauffahrer vom Stapel lief ... „Es ist, als schlügen für mich keine Uhren in dieser Stadt,“ dachte er, als er eine lange Zeit gestanden hatte. „Aber man muss das gesehen haben. Jawohl.“ — Wenn er recht erwog: nicht den hundertsten Teil so schön war diese neue Welt als jene, die er bis dahin erlebt hatte! Aber sie war unerhört neu. Und sie war durchbraust vom Sturme des Lebens. Sie erzeugte auch das wohltätige Gefühl, einmal treiben zu können, ohne zu fragen, wohin das wollte.
Auf der Strasse zum Bahnhof war er schon mehrfach gewesen, aber nie zu einer Abreise gekommen. Doch hielt ihn weder die Ungewissheit seines Schicksals noch die peinliche Prüfung zurück, um die er Herrn Alma Tadema bitten wollte. Sondern es war die Lust an der grossen Stadt. Es war das ungewohnte Erleben des Herzschlags der Erde. Denn so erschien ihm das Brausen, das hier aus allen Winden zusammenlief, um in alle Winde fortzurennen — erschien ihm als der Herzschlag der Erde im Gegensatz zum Paradies, aus dessen Stille er geschaut ins Herz Gottes.
Natürlich vergass er den Grund seiner Reise nicht. Zu seiner Verwunderung merkte er sogar, dass er nie zuvor das Urteil des Meisters mit so geruhiger Seele erwartet hatte als jetzt.
Er wandte sich auch diesmal wieder der Stadt zu, wiewohl er reisefertig war. Und daran war der Laden eines Althändlers schuld, der in der Westerstrasse lag.
Der Sturm der Erscheinungen, der die weitoffenen Sinne des Matheis Maris bedrängte, hatte diese Sinne nicht stumpf und müde werden lassen; denn er sank des Abends — er hatte eine Stelle bei einer alten Frau an der Lindengracht gemietet, nicht allzuweit vom Bahnhofe — ja, des Abends sank er in einen abgrundtiefen Schlaf. Keine Nacht im Paradiese hatte dies Wunder an ihm fertig gebracht, das nun die Nächte der lauten Stadt vermochten, die ihn aus tausend bunten Augen — ihren Lampen — anfunkelten.
Am nächsten Morgen war er schon durch viele Strassen gezogen, als das Reichsmuseum im Trippenhaus geöffnet wurde. Die Bilderschätze des Museums van der Hoop, die im Hussittenhaus, im Stadthaus kannte er natürlich auch. Jeden Vormittag verwandte er zur Besichtigung der Gemäldesammlungen. Da erkannte er: wenngleich er die Welt mit dem wuchtig wippenden Schritt des Moorbauern durchmass und seintag nie recht aus den Holzschuhen herausgekommen war — was hier an Kunst der Jahrhunderte aufgespeichert und der Stolz seines Vaterlandes geworden, das konnte auch er mit seinem Verstand ermessen, besser vielleicht als der gewandte Stadtherr und seine Dame, die sich lachend nach dem ungelenken Jan van Moor umwandten.
Nun ja, vielleicht hatte er mehr an Theorie und Geschichte der Malerei in sich aufgenommen als nötig gewesen wäre. Das focht ihn nicht an. Doch — wonach er zuerst nicht gefragt hatte — nämlich: ob er mit seiner Kunst vor diesen Grossen bestehen könnte — diese Frage fesselte ihn nun recht sehr.
Zuerst wog er aus, wie es jene gemacht hatten — dies und das, was er sich auch zur Aufgabe gestellt. Und seine Freude ward schier betroffen, wenn er sah, dass er auf dem gleichen Wege geführt worden und mit den gleichen Mitteln die gleichen Wirkungen erstrebt hatte — nur auf die Stimme des Gottes hin, die in