Fettnäpfchenführer Norwegen. Julia FellingerЧитать онлайн книгу.
Kilometer 50
Cecilie hat sich für ihren Gast aus Deutschland heute extra freigenommen. Sie will mit ihm einen Ausflug in die Marka machen, in die unberührte Natur oberhalb von Oslo, um ihm dort die Schönheit ihrer Heimat zu zeigen. Stefan hatte sich ein paar Tage zuvor bei seinem Chef gemeldet und ist mit ihm eine To-do-Liste von Kontakten und Adressen durchgegangen, die er auf der Suche nach dem kostbaren Gemälde nun eigentlich abklappern soll. Aber die Idee, diese Liste erst einmal ruhen zu lassen und ein bisschen spazieren zu gehen, gefällt ihm besser.
Sie lassen das Auto stehen und nehmen die T-bane (U-Bahn) Nummer 1 Richtung Holmenkollen. An der Haltestelle Majorstuen warten sie auf die Bahn, und als diese endlich kommt, wundert sich Stefan, dass es Leute überhaupt schaffen, dort einzusteigen, geschweige denn, dass bei diesem Gedränge die Leute einen Weg nach draußen finden. Die Faustregel »Erst aussteigen lassen, dann selbst einsteigen« würde hier auch mal Wunder bewirken. In der Bahn selbst sind die meisten Sitzplätze von Kindern besetzt, ein paar ältere Herrschaften stehen und halten sich mit Mühe und Not an der Stange fest, obwohl ihnen der Schwerbehindertenausweis fast schon sichtbar um den Hals baumelt.
Als in Stefans Nähe endlich ein Sitzplatz frei wird und er ihn der älteren Dame neben ihm anbietet, muss er sie leicht antippen, um beachtet zu werden. Die Dame setzt sich schließlich hin, wobei sie ihm dabei kurz auf den Fuß tritt. Aber anstatt sich zu entschuldigen, schaut sie schnell wieder hinaus aus dem Fenster.
Nach ein paar Stationen machen sich Stefan und Cecilie bereit zum Aussteigen. Neben ihnen steht eine Mutter mit einem Kinderwagen, und wie selbstverständlich packt Stefan am Wagen mit an, um ihr aus der Bahn zu helfen. Als er sich wieder aufrichtet und ihr kleines Dankeschön entgegennehmen möchte, hat sich die Frau schon Richtung Ausgang abgedreht. Auch gut. ›Andere Länder, andere Sitten eben‹, denkt sich Stefan. Die sind halt unhöflich, diese Norweger, das wurde ihm schon vor seiner Reise gesagt. Ist nur komisch, wenn man das am eigenen Leib mal mitbekommt.
Er folgt Cecilie zum Holmenkollen, der sich mit seinem Stahlgerüst von der Sonne angefunkelt über die Stadt schwingt. Stefan ist von dem phänomenalen Ausblick schwer beeindruckt, ihm reicht dieser kleine Spaziergang vollkommen, mehr Bewegung bräuchte er eigentlich nicht. Cecilie aber will weiter, schultert ihren Rucksack und macht sich auf den Weg. Stefan hinterher. Die Wanderung ist alles andere als ein kleiner Spaziergang, und Stefan ärgert sich, dass er seine neuen Wanderschuhe nicht angezogen hat, noch dazu, weil hier oben sogar noch Schnee liegt. Nach zwei Stunden erreichen sie endlich einen kleinen See, und Cecilie macht alles bereit für ein kleines Picknick. Das Wasser liegt dunkel und still zwischen den Bäumen. Die Frühlingssonne spielt mit den Schatten und spiegelt kleine Lichtpunkte auf das Wasser. So viel Stille hat Stefan noch nie erlebt. Er glaubt fast, sein eigenes Blut rauschen zu hören.
Stolz stellt sich Cecilie neben ihn. »Na, was sagst du? Ist das nicht einfach wunderschön?«
»Hübsch, ja, aber warum sind wir eigentlich hier?«, fragt Stefan.
Schleudergefahr
»Nordmenn er uhøflige!« (Norweger sind unhöflich) überschrieb im April 2010 eine Osloer Stadtteilzeitung ihre Titelgeschichte und präsentierte damit die neue Kampagne der Osloer Verkehrsbetriebe für einen höflicheren Umgang ihrer Fahrgäste untereinander. Die Strahlkraft von Medienberichten hätte man hier am lebenden Objekt studieren können, denn schon am nächsten Tag sah man Leute an der Bushaltestelle, die geduldig warteten, bis auch der letzte Aussteigewillige den Bus verlassen hatte. Sitzplätze wurden angeboten, und insgesamt war es in den öffentlichen Verkehrsmitteln an diesem Tag ein bisschen ruhiger als sonst. Aber eben nur an diesem Tag, denn – so weit reicht die Strahlkraft der Medien dann eben doch nicht – schneller als erwartet versiegte die Wirkung dieses Artikels, und die Norweger kehrten zurück zu ihrer alten, in den Augen von Ausländern oft als unhöflich empfundenen Gangart.
Das zeigt sich im Alltag vor allem beim Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel, im Straßenverkehr und beim Einkaufen. Da werden Türen vor der Nase zugeschlagen, kein »Bitte«, »Danke« oder »Entschuldigung« geht über die Lippen, und entweder ist man für die Leute Luft oder sie starren einen unverhohlen an. Kein Einzelphänomen von Jüngeren, dieses Verhalten zieht sich durch alle Generationen. Dass das eben so die Art der Norweger ist, kann man allerdings nicht direkt sagen, denn auch viele Norweger finden ein solches Verhalten störend und vermissen die einfachsten Freundlichkeitsrituale, die das Miteinander harmonischer machen könnten. Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn man sich bei einer Ski- oder Wandertour in freier Natur begegnet: Dann wird herzlich gegrüßt und freundlich gelächelt.
Auf der anderen Seite wird man der Sache nicht ganz gerecht, wenn man die Norweger kategorisch als unhöfliches Volk abstempelt. Die Umgangsformen mögen zwar immer weiter abstumpfen, sie haben aber auch einen ganz klaren kulturellen Ursprung.
Zunächst einmal gibt es im sozialdemokratisch geprägten Norwegen ein starkes Bedürfnis nach Gleichheit. Individualismus und Herausragenwollen aus der Menge ist verpönt (siehe auch Janteloven), im Extremfall wird es sogar als Angeberei und Prahlerei wahrgenommen. Da ist es nur konsequent, wenn man, bevor man zu viel sagt, lieber gar nicht redet, schließlich hat man ein gesundes Misstrauen jeglicher verbalen Kommunikation gegenüber. Und man mischt sich auch nicht in die Belange seiner Mitmenschen ein, denn das Privatleben des anderen ist ihnen heilig. Was für die einen Unaufmerksamkeit ist, ist für andere nur eine Methode, um keine falschen Intentionen zu wecken. Der Kodex, sich nicht zu beachten, wird von allen akzeptiert, alle haben ihre Ruhe, keiner wird gestört.
Auf der anderen Seite empfinden Norweger das, was im Ausland als höflich gilt, als eher befremdlich. Da wäre zum Beispiel dieses amerikanische »How are you?« oder »Have a nice day«. Bedeutungslose Floskeln ohne jeglichen Inhalt finden Norweger unangebracht, zu so etwas Falschem und Unechtem lässt man sich hier nicht hinreißen. Deutsche Höflichkeit erscheint in ihren Augen ebenfalls eher überzogen, sie passt aber in das Bild des korrekten Deutschen.
Die Vietnamesin Anh Nga Longva, die seit über dreißig Jahren in Norwegen lebt und an der Universität in Bergen Sozialanthropologie lehrt, findet, dass die Höflichkeit der Norweger in ihrer Authentizität liegt: »Ich bin echt, deshalb bin ich eben nicht unhöflich.«
Ach, und noch etwas: In Norwegen vermeidet man es, fremde Menschen zu berühren; das Antippen eines Mitmenschen ist verpönt.
Tempo drosseln!
Wir haben also gelernt, dass die Norweger Mitteleuropäern schon mal ruppig und barsch erscheinen können. Andererseits sollte man sich vor Augen halten, dass nicht jede Nation das Gleiche als höflich empfindet. So erleben die Norweger immer wieder ungewollt unhöfliche Ausländer, die sich zwar brav für das Essen bedanken (takk for maten) und anständig »Danke« (takk) und »Bitte« (vær så snill) sagen, aber bei anderen Gelegenheiten in den Augen mancher Norweger wenig galant erscheinen. So wird im Laufe seines Aufenthaltes jedem Besucher mindestens einmal die Frage gestellt werden: »Wie finden Sie Norwegen?« Wer da nicht sofort in Begeisterung ausbricht, hat verloren. Wer einem Norweger gegenüber fallen lässt, dass er »richtiges« Norwegisch und keinen Dialekt lernen will, braucht gar nicht erst wiederzukommen, und wer, wie Stefan, sich beim Anblick der sagenhaften Natur nur ein »hübsch« abringen kann, ist unten durch. Norweger sind stolz auf ihr Land, auf ihre Sprache und ihre Eigenheiten und wollen ihre Besucher daran teilhaben lassen. In ihren Augen ist es absolut unhöflich, wenn genau bei diesen Dingen nicht der angemessene Respekt gezollt wird.
4
GLAUB JA NICHT, DU BIST WAS BESSERES
SO FUNKTIONIERT DAS JANTELOVEN
Kilometer 150