Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb KäzmannЧитать онлайн книгу.
und vom Tod der Liebsten erfuhr, trug er ihren Leichnam auf einen Berg, nahm eine Fackel in die Hand und schwor, seine Geliebte immer zu beschützen und ihr niemals von der Seite zu weichen. Die Götter bedeckten die beiden Liebenden mit Schnee und verwandelten sie in die Vulkane Iztaccihuatl – »die schlafende Frau« –, dessen kurvige Form seinem Namen alle Ehre macht, und Popocatépetl – »den rauchenden Berg« –, der bis heute mit qualmender Fackel Zeugnis seiner unvergänglichen Liebe ablegt und seinem Schmerz hin und wieder mit kleineren Ausbrüchen Ausdruck verleiht.
Ein struppiger Hund beobachtet Lily von einem Balkon aus und kläfft hysterisch, als sie vorbeigeht – allerdings könnte das Bellen auch der streunenden Katze gelten, die sich maunzend um Lilys Aufmerksamkeit bemüht. In der Ferne läuten ein paar Kirchturmglocken, aber ansonsten herrscht eine Stille, wie sie Lily nur von deutschen Sonntagen auf dem Land kennt. Das ändert sich, sobald sie auf die Hauptstraße tritt.
Da hupen Autos, quietschen Bremsen und an einer befahrenen Kreuzung sorgt ein einsamer Verkehrspolizist pfeifend und winkend für Ordnung. An der Straßenecke verkaufen zwei Frauen Ess-bares aus großen metallenen Töpfen. »Tamales« (mit einer Masse aus Mais, Fleisch oder Käse gefüllte Mais- oder Bananenblätter) steht auf einem handgeschriebenen Schild, und eine Gruppe junger Männer steht kauend daneben. Als Lily vorbeigeht, folgen sie ihr mit den Augen. Einer der Männer zieht hörbar Luft ein, ein anderer gibt einen zischenden Laut von sich. Lily geht einen Schritt schneller. Sie spürt die Blicke im Rücken und zieht unauffällig an ihrem Rock – ob der doch zu kurz ist? Ein paar Minuten später hat sie das Ganze schon wieder vergessen und schlendert staunend durch die Innenstadt mit ihren vielen bunten Kolonialbauten und den unzähligen Kirchen.
Zwei ältere Männer sitzen auf einer Bank am zócalo, dem Hauptplatz, und blinzeln in die Morgensonne. Als Lily an ihnen vorübergeht, pfeift es plötzlich hinter ihr und ein lautes »¡Hola güerita! ¡Qué guapa!« (Hallo Blondchen! Wie hübsch!) ertönt. Lily ist empört. Dass Männer in dem Alter jungen Mädchen hinterherpfeifen, das ist doch echt das Letzte! Sie schleudert einen wütenden Blick auf die beiden, da klingelt ihr Handy.
Wer hat denn jetzt schon meine neue Nummer? Immerhin hat sie die mexikanische SIM-Karte erst gestern Abend eingebaut. Es ist Héctor, der, gerade aufgestanden, auch auf den Markt will. Er verspricht, sie in zwanzig Minuten am zócalo abzuholen. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, schlendert Lily auf dem Platz herum und setzt sich schließlich auf eine Bank in die Sonne – möglichst weit von den beiden Alten entfernt. Fast ist sie eingedöst, als sie ein lautes »¡Buenos días, guapa!« aus dem Dämmerzustand reißt. Verärgert blickt sie auf. Diesmal ist es Héctor, der grinsend vor ihr steht.
»Was ist denn mit dir los?«, will er angesichts ihres missmutigen Gesichtsausdrucks wissen.
»Ach nichts«, entgegnet Lily schnell, »ich hab nur Hunger.«
»Na, wenn’s weiter nichts ist. Auf dem Markt finden wir bestimmt was für dich.«
Lily sieht Héctor prüfend von der Seite an. »Hübsche« hat er sie genannt. Soll sie das jetzt aufdringlich finden? Als sie an den zwei Alten vorbeikommen, macht sich Lily auf einen weiteren Kommentar gefasst, doch der bleibt glücklicherweise aus. Jetzt scheint das Leben hier so richtig in Fahrt zu kommen, im wahrsten Sinne des Wortes: Der Verkehr wird immer dichter, das Klappern eines alten Motorrades vermischt sich mit einem verärgerten Hupen und dem Martinshorn eines Notarztwagens zu einem lebhaften Konzert. Je näher sie der grün gestrichenen Markthalle kommen, desto dichter drängen sich die Fußgänger auf den schmalen, teilweise etwas abschüssigen Bürgersteigen. Lily ist ganz froh, dass Héctor neben ihr an der Straßenseite spaziert.
Als sie die Markthalle betreten, schlagen ihnen unzählige Gerüche entgegen. Rechts brutzelt Fleisch auf einem großen Grill, links sitzt eine kleine Frau vor einem Berg duftender überreifer Mangos, ein paar Meter weiter sind mehrere Blumenstände aneinandergereiht und ein Mann ist geschäftig dabei, einen Blumenstrauß für seine Kundin zusammenzustellen. Etwas überfordert folgt Lily Héctor, der anscheinend genau weiß, wo er hin will – obwohl es Lily ein Rätsel ist, wie er sich in diesem Wirrwarr von Gängen und Ständen überhaupt zurechtfinden kann.
»Ich würde vorschlagen, dass wir zuerst was essen und dann einkaufen, ja? Dann müssen wir den Kram nicht die ganze Zeit mitschleppen«, meint Héctor, während er zielstrebig auf die »Fressgasse« zuläuft, wo ein Essensstand neben dem anderen diverse Köstlichkeiten anbietet. Vor den Ständen sind ein paar einfache Holztische und -bänke aufgereiht, an denen bereits ein paar Leute ihr Frühstück genießen. Héctor weist auf einen freien Platz, und Lily und er setzen sich.
»Lass mich mal bestellen«, sagt Héctor und wendet sich an die Verkäuferin: »Una quesadilla con flor de calabaza y una con huitlacoche, por favor.«
Quesadilla? Das wird wohl irgendwas mit Käse sein, denkt sich Lily. Mit flor de calabaza, Kürbisblüte, und – was war das andere? Sie beschließt, sich einfach überraschen zu lassen und unterdessen das Markttreiben zu genießen. Bis ihr Blick auf den Metzger gegenüber fällt, der gerade mit Innbrunst eine Schweinehälfte mit einem Beil bearbeitet. Es kracht laut. Lilys leerer Magen macht einen kleinen Satz, und sie konzentriert sich lieber auf den Essensstand, an dem die Köchin zwei Fladen auf der heißen Steinplatte vor ihr zusammenklappt, jeweils einmal in der Mitte teilt – »damit la guapa von beiden probieren kann« – und auf zwei Plastiktellern serviert. Die quesadillas mit den saftigen Kürbisblüten schmecken herrlich und auch die seltsame dunkle Füllung hat einen zwar ungewohnten, aber durchaus interessanten, leicht rauchigen und würzigen Geschmack.
»Huitlacoche, das sind Maiskörner, die von einem Pilz befallen sind und sich deshalb schwarz färben – eine Spezialität«, klärt Héctor sie kauend auf.
Wenn sie das vorher gewusst hätte ... Aber es schmeckt.
Als sie fertig sind, zückt Lily ihr Portemonnaie. Doch kaum hat sie angesetzt, nach la cuenta, der Rechnung, zu fragen, ist Héctor ihr schon zuvorgekommen. Lily ist das unangenehm, schließlich kann sie ihr Essen ja wohl noch selbst zahlen und muss sich nicht von Héctor aushalten lassen. Aber für den scheint das selbstverständlich zu sein.
Gesättigt schlendern die beiden durch die kühlen Marktgänge und lassen sich von den Verkäufern umwerben, probieren hier ein Stückchen queso de Oaxaca (Weichkäse aus Oaxaca), dort eine Scheibe Wassermelone, bis Lily schließlich vor einem Obststand mit überquellenden Auslagen voller Mangos und Ananas stehenbleibt.
Sie will gerade bestellen, da kommt Héctor ihr erneut zuvor.
»Was möchtest du? Ein Kilo Mangos und eine Ananas?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, hat er der Verkäuferin schon die Bestellung mitgeteilt, nimmt eine prall gefüllte Tüte entgegen und drückt der Frau ein paar Münzen in die Hand. Lily steht entgeistert daneben.
»Denkst du, ich kann nicht genug Spanisch, um ein bisschen Obst zu bestellen?«, giftet sie ihn an – und erntet einen überraschten und verständnislosen Blick.
Als sie nach der Tüte greifen will, schüttelt Héctor den Kopf: »Lass mal, die ist echt schwer.«
Lily verdreht die Augen und ihre Stimmung bessert sich auch nicht, als sie wieder hinaus in die Sonne treten, um sich auf den Heimweg zu machen, und Héctor die Seite wechselt, um Lily nicht zu nah an der stark befahrenen Straße gehen zu lassen. Was vorhin noch eine nette Geste war, kommt Lily plötzlich vor wie ein weiteres Puzzlestück in der völligen Bevormundung. Den Rest des Weges schweigt sie verbissen, ohne Héctors Bemühungen, ein Gespräch anzufangen, zu beachten.
Als sie zu Hause ankommen und Simon sie mit einem lauten »¡Hola guapa! Qué linda vas!« (Hallo Hübsche! Wie schön du aussiehst!) begrüßt, ist es mit ihrer Geduld vorbei.
»Fängst du jetzt auch noch damit an?«, bricht es aus Lily hervor. »Ich hab echt genug von euch Machos!«
Entgeistert gucken sich Simon und Héctor an.
Reingetreten
Lily ist hier zum ersten