Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb KäzmannЧитать онлайн книгу.
zwar rein biologisch betrachtet nichts weiter als »männlich«, wurde jedoch durch die Verbindung von Männlichkeit und Macht dermaßen aufgeladen, dass er als die übersteigerte Zurschaustellung von Männlichkeit zu verstehen ist, einhergehend mit der demonstrativen Vorrangstellung gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Formen des machismo finden sich nicht nur in Mexiko, sondern auch im übrigen Lateinamerika sowie in den Ländern Südeuropas.
Das Gegenstück zum machismo – und zugleich Teil desselben – ist der marianismo, der einerseits in Anlehnung an die Muttergottes die Verehrung der Frau als heiliges und schützenswertes Wesen versinnbildlicht, andererseits der Frau selbst gewisse Verhaltensregeln vorschreibt: Zurückhaltung, Tugendhaftigkeit, ein sich Aufopfern für die Familie etc.
DIE ROLLE DER FRAU
Die Frau ist in Mexiko traditionell für den häuslichen und familiären Bereich zuständig. Sie sorgt für den Zusammenhalt der Familie, während der Mann die wirtschaftlichen und politischen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausfüllt. So weit die Tradition. Mittlerweile brechen diese Strukturen zunehmend auf: Immer mehr Frauen, gerade aus dem städtischen Umfeld sowie der Mittel- und Oberschicht, erreichen hohe Bildungsabschlüsse und vergrößern dadurch ihre Chance auf qualifizierte Arbeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Zahl der Studentinnen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und übertrifft mittlerweile in einigen, v. a. sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern sogar die der männlichen Studenten. Auch die Erwerbstätigkeit bei Frauen steigt, auch wenn sie – ähnlich wie in europäischen Ländern – eine geringere Entlohnung zu erwarten haben als Männer in den gleichen Berufen.
Auch im Sport sind die mexikanischen Frauen immer mehr im Kommen, so z. B. mit ihrer Fußballmannschaft, die sich bereits ein paar Mal für die Weltmeisterschaft qualifizieren konnte. In der Politik gibt es in Mexiko seit den späten 1990er-Jahren eine Frauenquote, die die Parteien dazu verpflichtet, 40 Prozent ihrer Wahllisten für den Kongress mit weiblichen Kandidaten zu besetzen, wenngleich diese Verpflichtung noch nicht erfüllt wird und bisher in keiner Partei der vorgeschriebene Frauenanteil erreicht wurde.
Die klassischen Rollenbilder bedingen sich gegenseitig. Einerseits führt dies zu einer häufig zu beobachtenden Dominanzhaltung der Männer, andererseits zu einem teilweise vielleicht übertrieben anmutenden Beschützerinstinkt gegenüber der Frau. Der mexikanische Autor Octavio Paz schreibt in seinem Buch »Das Labyrinth der Einsamkeit«, wo er sich an eine Analyse des mexikanischen Wesens wagt: Der Respekt, den man der Frau in Mexiko zollt, sei oft nur ein »heuchlerisches Mittel, sie zu unterwerfen und sie am Ausdruck ihrer selbst zu hindern« (Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit, Olten 1970, S. 36). Das mag vielleicht übertrieben klingen, beschreibt aber recht gut die Ambivalenz des marianismo, die auch Lily zu spüren bekommt. Héctor hat sich seiner Meinung nach vollkommen korrekt verhalten, indem er Lilys Status als »schützenswertes Wesen« anerkennt. Doch gerade dies ist es, was Lily auf die Palme bringt, da sie den Respekt als Bevormundung auffasst.
Umgangen
Jede Frau, die einmal Spanien, Italien oder irgendein lateinamerikanisches Land bereist hat, kennt es: Das lautstarke Kundtun männlichen Wohlgefallens beim Anblick eines weiblichen Wesens. Dies kann im besten Fall dazu führen, dass man sich als Frau positiv seiner Weiblichkeit bewusst wird, aber es kann auch unheimlich nervig und, vor allem für Neulinge wie Lily, unangenehm sein. Meist sind entsprechende Äußerungen harmlos und eher als Anerkennung statt als tatsächliche Anmache zu verstehen. Mit einem ¡Hola guapa! oder einem ¡Qué linda! sollte man daher als Frau entspannt umgehen und es einfach als das auffassen, was es ist: ein Kompliment.
In engen Bussen oder Bahnen kommt es allerdings auch hin und wieder zu körperlichen Übergriffen, was selbstverständlich keinesfalls zu tolerieren ist. Normalerweise findet man insbesondere in weiblichen Mitfahrern, denen das Problem vertraut ist, tatkräftige Hilfen. In Mexiko-Stadt gibt es mittlerweile in der U-Bahn eigene Abteile für Frauen und Kinder und vereinzelt eigene Busse für Frauen.
Der machismo ist in Mexiko noch immer allgegenwärtig, jedoch sollte man nicht alles auf die Goldwaage legen – sicherlich hat Héctor mit seinem zuvorkommenden Verhalten keineswegs beabsichtigt, Lily in ihrer Freiheit zu beschränken oder ihr Unfähigkeit zu unterstellen. Es hätte genügt, ihn in normalem Tonfall auf sein Verhalten und das eigene damit verbundene Unwohlsein hinzuweisen, statt ihn mit einer wütenden Reaktion vor den Kopf zu stoßen.
3
¡VIVA MÉXICO!
NATIONALSTOLZ IM ALLTAG
Montagmorgen. So richtiger Arbeitseifer hat Lily noch nicht gepackt, dafür war das Wochenende zu schön. Und zu anstrengend. Sie beschließt, die Vorlesung zu schwänzen und einen Spaziergang durchs Viertel zu machen. Unterwegs eine Zeitung zu holen und dann irgendwo einen Kaffee zu trinken, das scheint an diesem sonnigen, aber noch angenehm kühlen Morgen eine gute Alternative zur Uni.
Als sie auf der Suche nach einem Zeitungskiosk durch die Straßen schlendert, hört sie plötzlich vor sich Marschmusik und singende Kinderstimmen. Ein Klinkerbau beherbergt, wie das Schild am Eingang verrät, ein centro escolar (Schulzentrum).
Neugierig tritt Lily an den Zaun, der den Schulhof vom Bürgersteig trennt. Dort im patio macht sie die Quelle der Musik aus.
Kleine Kinder, Grundschüler – Lily schätzt sie auf sechs oder sieben, höchstens acht Jahre –, stehen dort hochkonzentriert in ihren Schuluniformen mit blauen Hemden, die Jungen in grauen Hosen, die Mädchen in grauen Röcken, und singen ein Marschlied zu Trommel- und Trompetenklängen aus einem kleinen Verstärker.
SECHS JAHRE MUSS MAN: SCHULE IN MEXIKO
In Mexiko besteht eine sechsjährige Schulpflicht, die die Kinder in der primaria absolvieren. Daran schließt sich die dreijährige secundaria an, gefolgt von der wiederum dreijährigen preparatoria (Vorbereitungsschule, kurz: prepa), die, wie der Name andeutet, auf das Studium an einer beruflichen Hochschule bzw. an einer Universität vorbereitet und mit dem bachillerato (Abitur) abgeschlossen wird.
Für die Schuluniform, die vorgeschrieben ist, wird argumentiert, dass sie die Zugehörigkeit zur Schule erkennen lasse, Diskriminierung vermeide und dass sie, so die Verwaltung von Mexiko-Stadt, dazu beitrage, Anerkennung aufgrund persönlicher Merkmale und nicht aufgrund der Kleidung zu zollen. Ob die Uniformen tatsächlich zu einer größeren Gleichheit beitragen, kann man in Frage stellen. Wer etwas auf sich hält, seinem Kind gute Chancen sichern will und das nötige Geld hat, schickt den Nachwuchs auf eine Privatschule. In den weiterführenden Schulen sind das rund ein Fünftel der Schüler. Da jede Schule ihre eigene Uniform hat, kann man private und staatliche Schüler leicht auseinanderhalten, vorausgesetzt man kennt die örtlichen Schulen und ihre Farben. Und die staatlichen Schulen haben nicht den besten Ruf.
Trotz der allgemeinen Schulpflicht war die Analphabetenrate lange Zeit recht hoch. Sie ist in den letzten Jahren zurückgegangen, betrug aber 2018 noch über 4 Prozent. Besonders stark ist die indigene Bevölkerung davon betroffen. In Oaxaca liegt die Rate mit fast 13 Prozent deutlich über dem Durchschnitt, bei Frauen ist sie dort doppelt so hoch wie bei Männern. In ländlichen Gebieten müssen die Kinder, v. a. die Mädchen, oft mitarbeiten und besuchen deshalb nicht oder nicht regelmäßig die Schule. Außerdem fehlt es an Geld für Schulutensilien bis hin zur Uniform, manche Eltern sprechen kein Spanisch, zum Teil fehlen Dokumente wie Geburtsurkunden, die für den Schulbesuch Voraussetzung sind.
Am Rand des Schulhofs stehen neben dem Verstärker drei Frauen, vermutlich Lehrerinnen. Sie singen nicht mit, sondern halten ihre rechten Hände stumm vor die linke Brust. Vielleicht ein Gruß oder eine Ehrenbezeugung?
Das Marschlied ist zu Ende, eine Kinderstimme kommandiert: »¡Un paso adelante!« (Einen Schritt nach vorne!), und aus den beiden Kindergruppen, die in zwei Reihen einander gegenüberstehen, tritt je eine Schülerin einen Schritt nach vorne.