Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb KäzmannЧитать онлайн книгу.
die Rechte weiterhin an die Brust gelegt, wie zu eigenartig grüßenden Salzsäulen erstarrt dabeistehen.
FLAGGE ZEIGEN
Auf den ersten Blick sieht die grün-weiß-rote mexikanische Flagge wie die italienische aus, in deren Mitte man ein Wappen mit Adler gemalt hat. Allerdings sind das Grün und das Rot dunkler. Solange der mexikanische Staat katholisch geprägt war, symbolisierten die Farben die Unabhängigkeit von Spanien (grün), die Reinheit des katholischen Glaubens (weiß) und die Verbindung zwischen Europa und Amerika (rot). Das änderte sich im 19. Jahrhundert mit der Verweltlichung des Staates unter Benito Juarez (1806–1872, mexikanischer Präsident, der als Begründer der Republik gilt). Seitdem steht Grün für die Hoffnung, Weiß für die Einheit und Rot für das Blut der Nationalhelden.
Ein Adler, der auf einem Feigenkaktus sitzend eine Schlange im Schnabel hält, ist Bestandteil der Flagge und bildet außerdem das Staatswappen. Mit diesem Bild wird die aztekische Legende aufgegriffen, wonach ein Adler den herumziehenden und nach einer Bleibe suchenden Vorfahren den Ort gewiesen hat, wo sie sich niederließen und Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, gründeten. Der Adler war erstmals im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (1810–1821) Wappen- und Standartentier.
Wappen und Fahne spielen bei vielen Ritualen eine wichtige Rolle. Es gibt eine eigene Flaggenhymne, die toque bandera, und den Flaggenschwur juramento a la bandera. Das Aufsagen des Schwurtextes begleitet der saludo romano (römische Gruß). Am Flaggentag, dem 24. Februar, steht die Fahne selbst im Mittelpunkt, aber auch am Unabhängigkeitstag, mit dem am 15. und 16. September die Loslösung von Spanien gefeiert wird, sowie am Revolutionstag (20. November) wird sie unter dem Gesang der toque bandera gehisst und bei Paraden und Appellen herumgetragen.
Auf Halbmast hängt sie u. a. an den Todestagen des letzten aztekischen Herrschers Cuauhtémoc (1496–1525) und des Revolutionärs Emiliano Zapata (1879–1919), aber auch zur Erinnerung an tragische Naturereignisse und politische Katastrophen wie das furchtbare Erdbeben von 1985 oder das Militärmassaker an protestierenden Studenten in Mexiko-Stadt kurz vor den Olympischen Spielen 1968.
Nach der Fahnenübergabe piepst eine Kinderstimme Kommandos, und die Kleinen marschieren herum und singen ein Marschlied. Fasziniert verfolgt Lily die Zeremonie, in der jetzt etwas passiert, was sie zunächst an die Fürbitten in einem katholischen Gottesdienst erinnert. Ein Kind spricht etwas vor, die anderen Kinder sprechen im Chor nach. Als sie konzentriert zuhört, erkennt sie, dass die Kinder eine Art Gelübde ablegen. So geloben sie, sich einzusetzen für libertad y justicia (Freiheit und Gerechtigkeit) als Grundlage für die Einheit der Nation. Peinlich berührt sieht sie, dass die Kinder beim Gelübde den rechten Arm zu etwas ausgestreckt halten, das Lily fatal an den Hitlergruß erinnert, auch wenn sie das nie laut sagen würde. Die Kleineren haben Mühe, ihre Ärmchen so lange hochzuhalten, sodass sich ein Auf und Ab der hochgereckten Hände ergibt. Das lässt das Ganze zum Glück doch eher putzig als furchteinflößend wirken.
Nun scheint der martialisch-offizielle Teil der Zeremonie beendet zu sein und es beginnt ein Tanzspiel. Erst jetzt fällt Lily auf, dass einige Erwachsene, wahrscheinlich Eltern, am Rand des Geschehens stehen. Immer wieder zückt einer von ihnen sein Handy, um das Ereignis festzuhalten.
Nach einer Weile reißt Lily sich los und macht sich zu ihrem neuen Lieblingscafé auf. Was sie gesehen hat, beschäftigt sie so sehr, dass sie vergisst, unterwegs eine Zeitung zu kaufen. Sie käme aber ohnehin nicht zum Lesen, denn vor dem Café sitzen Héctor und zwei ihrer Kommilitonen. Die drei haben wie Lily beschlossen, dass der Morgen zu schade für eine Vorlesung ist. Nach großem Begrüßungs-Hallo tauscht man Wochenenderlebnisse und Lästereien über Uni-Dozenten aus. Irgendwann hält es Lily nicht mehr aus. Der Pausenhofdrill mit den Grundschulkindern beschäftigt sie zu sehr. Sie erzählt, was sie erlebt hat, versucht aber neutral zu bleiben, weil sie nicht weiß, wie ihre Bekannten darüber denken.
»Ist das üblich hier in Mexiko, so eine Parade in einer Grundschule?«, fragt sie zum Schluss und bemüht sich dabei um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck.
Ja, ja, bestätigen die anderen, und alle reden durcheinander, um von ihren eigenen Kindheits- und Jugenderlebnissen mit Flaggenparaden und Aufmärschen zu erzählen. Montags habe es auch früher schon eine Flaggenparade gegeben, da sei die Flaggenhymne und die Nationalhymne gespielt worden, bei einigen auch die Hymne des jeweiligen Bundesstaates. In den höheren Klassen gebe es an besonderen Tagen auch Märsche durch die Straßen und immer wieder kämen zu besonderen Anlässen Honoratioren wie alcaldes (Bürgermeister), secretarios (Minister) und manchmal sogar der gobernante (Ministerpräsident des Bundesstaates).
»Bei uns«, erinnert sich Héctor, »haben die Offiziellen immer Moralpredigten gehalten. Wir sollten fleißig sein, gehorchen und uns für andere einsetzen. Solche Sachen.«
Die beiden anderen haben das Gleiche erlebt, man ist sich einig: »Die Ansprachen waren todlangweilig«.
»Und das Gelöbnis? Warum heben die Kinder die Arme dabei so komisch hoch?«
»Ach das, das ist der saludo romano (römische Gruß)«, erklärt Héctor. »Ich weiß, ihr Deutschen denkt immer, alle seien Nazis, die den Arm so in die Luft recken. Aber die Geste kommt eigentlich aus dem alten Rom.«
»Aber in Italien ist der saludo romano doch verboten!«, weiß Lily von einer Freundin, die als Erasmusstudentin in Rom war. »Also ich finde, das hat tatsächlich was Nationalistisches, wenn schon Grundschulkinder mit Marschmusik und Flaggenschwur in die Woche starten.«
Das ist Lily so rausgerutscht, dabei hat sie sich doch wirklich zurückhalten wollen. Und schon passiert das, was sie eigentlich vermeiden wollte. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion über Geschichte, Symbole, Vaterlandsliebe und die Frage, was Erziehung und was Manipulation ist.
Reingetreten
No politics, no religion, no sex! – so lautet ein in aller Welt verbreiteter Ratschlag dazu, welche Gesprächsthemen man besser meiden sollte.
Bei Smalltalk oder gepflegter Konversation, also Gesprächen, die mit wenig Tiefgang leicht dahinplätschern, sollte man dies sicher beherzigen. Zu groß ist das Risiko, dass sich eine Konfrontation oder, fast noch schlimmer, peinlich berührtes Schweigen einstellt, wo man sich eigentlich zwanglos unterhalten will.
Lily ist hin- und hergerissen. Einerseits will sie niemandem zu nahe treten, andererseits beschäftigt sie das, was sie beobachtet hat, und wen soll sie fragen, was dahinter steckt, wenn nicht die drei?
So richtig »reingetreten« ist sie genau genommen nicht. Sie hat sich bewusst dafür entschieden, die typischen Tummelplätze des Smalltalks zu verlassen und etwas anzusprechen, was brisant ist oder zumindest sein könnte.
Wir haben die Geschichte nicht weiter erzählt. Vielleicht gehen die Beteiligten heillos zerstritten auseinander. Es kann aber auch sein, dass sie sich gegenseitig nähergekommen sind und somit auch den Fragen, um die es hier geht: Was bedeuten mein Land, seine Geschichte, seine Symbole für mich? Gibt es »typisch mexikanische« und »typisch deutsche« Antworten auf diese Fragen oder geht es eher wild durcheinander?
Umgangen
Selbstverständlich kann man der oben zitierten Maxime folgen und politische Themen vermeiden, aber man bringt sich damit möglicherweise um spannende und interessante Begegnungen und Gespräche. Ob man eher den sicheren und ein bisschen langweiligen Weg oder den riskanteren wählt, das hängt natürlich auch von der Einschätzung der Situation und der Gesprächspartner ab. Auf jeden Fall ist es hilfreich, sich ein paar Orientierungspunkte klarzumachen. Hierzu gehören beispielsweise die historischen Ereignisse, die wichtig sind, weil man auch im Alltag immer mal wieder darauf Bezug nimmt, und sei es, dass man wegen eines Feiertags arbeitsfrei hat.
WENDEPUNKTE: WICHTIGE JAHRESZAHLEN
Jedes Land hat seine eigenen Wendepunkte, Jahreszahlen, die im Verlauf der Geschichte einen Einschnitt darstellen oder zumindest so gesehen werden. Für Mexiko gehört die von Spanien erkämpfte