Die Faxen Dicke. Reiner HänschЧитать онлайн книгу.
schleimig Gelbliches zieht und damit verschwindet, den Eingang zu einer Küche entdecken, in der offensichtlich irgendeine Art von menschlichem Leben auszumachen ist. Man hört Stimmen und das Klappern von Geschirr. Ich verschweige Steffi aber, dass ich auch sehe, wie da gerade ein haariges Tier, größer als eine Maus, kleiner als eine Katze aus der offenen Küchentür in die schwarze Dschungelnacht hinausflüchtet. Vielleicht habe ich gerade eine neue Tierart entdeckt.
Hinter uns lässt sich die Einfahrt zu einer Art Autowerkstatt oder auch Autofriedhof erkennen. Ein leichter Öl- und Dieselgeruch mischt sich mit dem schweren Aroma des Urwalds. Ein Hund bellt, aber sonst sieht man keine Menschenseele. Es scheint das wahre Ende der Welt zu sein, und so weit sind wir ja schließlich auch gefahren. Nur dass es dann da wirklich auch so aussieht, wie man sich das Ende der Welt immer vorstellt, das hätten wir nicht gedacht.
Der Urwald um uns herum fabriziert eine Menge exotischer und unheimlicher, nie gehörter Geräusche, und ein tropischer Vogel sitzt irgendwo über uns und macht: „Ts, ts, ts“, als wolle er uns einen Vorwurf machen.
Ja, wem soll man jetzt einen Vorwurf machen? Uns selbst, weil wir unbedingt und sofort Urlaub haben wollten und alles genommen hätten? Oder vielleicht Frau Gantenbrink vom Reisebüro Töffte, weil sie sicher wusste, wie gruselig es hier am Ende der Welt aussieht, und uns trotzdem hingeschickt hat?
Es hilft ja nichts, unsere Sachen werden nass, und da sich kein Schatten aus dem Dunkel schält, um uns irgendwas abzunehmen, ergreife ich voller Verzweiflung die Initiative und den ersten Koffer und schleppe ihn Richtung Glühbirne der Hoffnung. Steffi nimmt mutlos den zweiten und auch Max kann zwei der Taschen tragen, obwohl er vor Müdigkeit fast umkippt.
In der offenen, hölzernen Urwald-Empfangshalle des „Paradise Rock Resorts“ sehen wir die Bayern schon wässerige, gelbe Getränke schlürfen. Die Lotzes sitzen erschöpft auf ihren Koffern und das Ehepaar Leichenhalle redet auf einen einzelnen verunsicherten Eingeborenen hinter der Rezeptionstheke ein. Offensichtlich sind die beiden mit ihrem Zimmer nicht zufrieden, das sie noch gar nicht gesehen haben. Superior Double Deluxe Beachview Senator Suite, also SupDoubDelBeSeSui, hätten sie schließlich bestellt und keinen einfachen popeligen SupHiBung, also Superior Hillside Bungalow, ohne Senator und Deluxe und Suite und so weiter. Frau Leichenhalle macht einen Riesenaufstand deswegen. Ihr Mann wäre vielleicht sogar mit SupHiBung einverstanden. Dem ist heute alles egal.
Ich mische mich vorsichtig in das Gespräch ein und bedränge meinerseits den Eingeborenen mit der vorsichtigen Frage, ob denn noch mit jemandem zu rechnen sei, der sich auch um uns Gestrandete kümmern und uns zum Beispiel bei den Koffern helfen könne.
„Wann Minnit, pliess!“, sagt der thailändische junge Mann lächelnd zu mir und widmet sich erst mal wieder den aufständischen Bayern.
Steffi sieht mich an und knurrt böse. Tja, bevor die Koffer ganz durchgeweicht sind und wir auch die nächsten Tage keinen trockenen Faden am Leib haben, gehe ich also wieder hinaus in die tropische Katastrophe und rette so viele Koffer wie möglich, während Steffi sich um Max kümmert, der inzwischen fest eingeschlafen ist und zwischendurch ein paarmal heftig niest und, verdammt noch mal, immer noch Temperatur hat.
Ermattet sinke ich nach dem letzten Koffertransfer in einen der aufgestellten Korbsessel, stiere glasig in das Prasseln des gnadenlosen Regens hinaus, schütte den wässrigen Orangensaft, den eine plötzlich aus dem unheimlichen Nichts doch noch aufgetauchte, lächelnde thailändische Fee mir reicht, in mich hinein wie ein Verdurstender, sehe meine arme, kleine Familie traurig an, weil ich es so endlos bereue, sie in eine solch bedauernswerte Lage gebracht zu haben, und mache mich ergeben an das Ausfüllen der Anmeldeformulare.
Das Ehepaar Leichenhalle ist verschwunden. Die Lotzes auch.
Dann warten wir nur noch etwa fünfzehn Minuten auf das Ausstellen der „Bläckfäss-Kuhponns“, Breakfast Coupons, ohne die wir am nächsten Morgen zweifellos verhungern würden, wie man uns versichert, und als die freundliche Frau uns die Coupons mit den Worten „Wällkamm to Pelledei!“, Welcome to Paradise!, überreicht, haben wir es geschafft und sind dem Koma nahe.
Wir nehmen noch schemenhaft wahr, wie aus dem undurchdringlichen, lärmenden Grün eine hölzerne Hütte vor uns auftaucht, wie drei Betten vor uns erscheinen, ich registriere noch, wie ich automatisch in die Tasche greife, um dem Helferlein, das uns dann doch noch die Koffer hinterhergeschleift hat, einen weiteren grünen Schein in die Hand drücke, dessen Wert ich immer noch nicht kenne – und dann brechen wir kraftlos zusammen.
Es ist Heiligabend, die Matratzen sind bretthart und unser schönes Sauerland ist ganz weit weg. An den Rückruf bei Ulli habe ich auch nicht mehr gedacht.
25.12. Zweiter Tach: Well done
„Ts, ts, ts“, macht der Vorwurfsvogel. Er sitzt direkt vor meinem Fenster auf der Rückenlehne einer abgewetzten Sonnenliege und sieht mich frech und erwartungsvoll an. Ich weiß nicht, wie lange er mir schon Vorwürfe macht, bis ich endlich wach geworden bin, und ich weiß auch nicht warum, aber jetzt hat er es endlich geschafft, mich aus dem finsteren Totenreich der Langstreckenurlauber zurückzuholen. Ich sehe ihn ebenso interessiert an wie er mich. Er sieht prächtig aus, eigentlich besser als ich, ist recht groß, hat schwarzes Gefieder, das um die Beine herum weiß ist und an den Wangen fetzige, gelbe Streifen hat. Ich habe noch nicht einmal weißes Gefieder an den Beinen.
Um ihn besser zu sehen, muss ich gegen die Sonne anblinzeln. Ja, die Sonne. Es muss die Sonne sein, von der wir so lange geträumt haben. Die tropische, warme, glücklich machende Sonne. Sie blitzt durch das dichte, grüne Blätterwerk, das uns am Abend zuvor noch so unheimlich und abweisend vorkam, so als wollte der mächtige Urwald uns lästige, widerliche Eindringlinge wieder angeekelt ausspucken oder gar verschlingen. Diese Sonne entwickelt selbst durch die zerkratzten und ungeputzten Scheiben der kleinen Fenster unserer Hütte eine enorme Kraft.
Das Paradies? Haben wir es wirklich gefunden?
Max hustet im Schlaf. Er liegt in einem Bett, das quer zu unserem Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand unserer Behausung steht. Es ist eng, winzig und schäbig hier.
Wo sind wir? Strafgefangenenlager oder tropisches Obdachlosenasyl? Der optimistische Reisekatalog hat diese Behausung als SupHiBung, Superior Hillside Bungalow, angepriesen. Hört sich doch weitaus besser an, als es aussieht.
Max’ Husten hört sich jetzt allerdings schon fast so an wie das Bellen eines Seehundes, und das ist gefährlich. Wir kennen diese bösartige Art von Husten nur zu gut von hunderten durchwachten Nächten mit heißen und kalten Umschlägen, Tröpfchen, Zäpfchen, Säftchen und Wärmfläschchen. Oh, nein, bitte nicht. Bitte, nicht jetzt, wo wir doch im Paradies sind. Dieser Husten gehört ins Sauerland.
Steffi sitzt augenblicklich aufrecht im Bett. Den frechlauten Vorwurfsvogel hat sie nicht gehört, aber ihr Kind kann sie hören, wenn es am anderen Ende der Welt hustet. Sie fühlt ihn husten. Das war schon immer so. Während ich meistens aufwendig geweckt werden musste, wenn Max in seiner früheren Kindheit solche Hustenanfälle bekam, und mir dafür oft schwere Vorhaltungen machen lassen musste, war Vogelmama Steffi immer sofort da, wenn ihr Junges sie brauchte. Er ist eben immer noch ein Teil von ihr, weil er ja mal in ihr drin war. Das Ei. Ein großes Wunder. Mein Anteil an diesem Wunder ist da wohl eher zu vernachlässigen.
Steffi springt auf und der Vorwurfsvogel verschwindet ärgerlich krächzend.
„Der arme Kerl“, sagt sie. „Jetzt kriegt er auch noch diese Pest. Ausgerechnet jetzt. Warum sag ich denn immer, er soll den obersten Knopf zumachen, wenn er rausgeht, warum sag ich denn immer, er soll mit nassen Haaren überhaupt nicht rausgehen, warum sag ich das denn alles, wenn mir sowieso keiner zuhört?“
„Ach, wird schon wieder“, sage ich, aber das ist nicht unbedingt das Richtige.
„Wird schon wieder, wird schon wieder! Was Besseres fällt dir dazu auch nie ein“, schimpft sie weiter, und ich weiß, dass ich jetzt besser erst mal eine Weile die Klappe halte. Wenn sie in diesem Zustand ist, sollte ich lieber gar keine eigene Meinung haben. Das könnte sehr gefährlich werden. Für mich, für uns, für