Der Alpdruck. Ханс ФалладаЧитать онлайн книгу.
auch gar nichts. Oder sie sagte, rasch nach dem Römer fassend: »Wenn Sie den Schoppen nicht wollen, nehme ich ihn gern wieder mit. Sie müssen ihn nicht trinken!« Kurz, sie ließ ihn alle Tage aufs deutlichste merken, wie abhängig er doch mit seinen Trinkerwünschen von ihren Launen war. Er aber mußte ihr Schimpfen wie die immer geringer werdenden Zuteilungen mit galligem Seufzen ertragen und kam doch jeden Tag wieder, ohne Würde und ohne Scham.
Vom Hotelchen wanderte der Tierarzt dann gravitätisch auf seinen sehr auswärts gesetzten Füßen durch die halbe Stadt bis zum kleinen Bahnhof, wo er meist kurz vor sechs Uhr den Wartesaal zweiter Klasse betrat. Oft hatte er dann das Glück, am Stammtisch, an dem auch ihm ein Platz zustand, den reichen Kornhändler der Stadt zu treffen, der ihn stets gerne an seinem Weine teilnehmen ließ. Saß dieser Händler aber mit einem oder mehreren Kunden an einem Sondertisch, so trat auch hier der Tierarzt hinzu, sagte ernst »Mit Verlaub« und wurde meist aufgefordert, mit Platz zu nehmen. Denn hier konnte der Dr. Wilhelm eine andere Seite seines Wesens geltend machen: er besaß ein ziemliches Repertoire derbster ländlicher Geschichtchen und Witzchen, die er in einem echten, bodenständigen Platt zu erzählen wußte. Ganze Gelächtersalven antworteten oft dem Erzähler, der doch nicht eine Miene seines galligen Gesichtes verzog, dadurch die Wirkung seiner Geschichten nur noch steigernd und die Laune der Kunden des Kornhändlers verbessernd.
Im übrigen schnitt der Tierarzt in der Bahnhofswirtschaft auch sonst meist günstig ab. Er war dort Stammgast seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten hatte er von etwa sechs bis acht Uhr abends an diesem Stammtisch gesessen, früher mit seiner Frau, nach ihrem Tode allein. Der Bahnhofswirt Kurz hielt auch ihn knapp, aber er ließ den alten Kunden meist nicht ganz ohne Stoff.
Um die Abendbrotzeit leerte sich der Wartesaal schnell, und auch Dr. Wilhelm setzte seinen Stab weiter. Was ihn nun in dem führenden Hotel des Städtchens erwartete, stand ganz dahin: es konnte viel, es konnte auch so gut wie gar nichts sein. Zwar floß der Wein noch willig in diesem Hause, aber der Wirt war ein Mann, der es liebte, Geld einzunehmen, und je mehr, um so lieber. Selbst als das Geldeinnehmen schon ziemlich sinnlos geworden war, da es für Geld kaum noch etwas zu kaufen gab, setzte der Wirt die Preise für seine Flaschenweine immer höher, so daß der Kauf auch nur einer Flasche weit aus dem Bereich des Möglichen für einen Schweineimpfer gerückt war, dessen Tageseinnahme häufig noch nicht einmal fünf Mark betrug.
So war hier Dr. Wilhelm ganz auf sein Glück angewiesen; oft mußte er Stunde um Stunde vor einem Glase des kriegsmäßigen Dünnbiers sitzen und beobachtete dabei gallig die Offiziere der SS, die eine Flasche nach der andern tranken. Sie baten ihn nie an ihren Tisch – die SS hielt sich stets vom kommunen deutschen Volke fern. Oder aber ein Hitler-Jugendführer von noch nicht zwanzig Jahren schwelgte mit seinem Mädchen in Süßweinen – auch hier war keine Nachfrage nach dem alten, geschichtengewandten Tierarzt.
Das waren schwere Stunden für einen alten Alkoholiker, dem das Trinken Lebensbedürfnis war. Wenn so die Zeit verstrich, die Nacht vorrückte, die Gäste immer betrunkener lärmten und der weißhaarige, stets voll Bonhomie lächelnde Wirt an die Polizeistunde erinnerte ... Wenn er einsehen mußte, daß an diesem Abend bestimmt nichts für ihn abfiel, da doch so viele herrlich alkoholisiert waren ... Wenn er dann nach dem Bezahlen seines Bieres die kümmerlichen Groschen und Scheinchen in seiner Tasche zusammenzählte, ob sie nicht vielleicht doch wenigstens zu einem Schnäpschen reichten, und er wußte doch schon vorher, sie reichten bestimmt nicht ... Wenn er dann schließlich mit einem schweren, bösen Seufzer Stock und Hut in die Hand nahm und in die Nacht hinaustrat, zu seinem Heim zu wandern ... Und wenn er dann an die vor ihm liegende Nacht dachte, in der er sich den Schlaf mit dummen Tabletten rufen mußte, den doch der Alkohol so göttlich voller Träume schenkte ... Dann wurde sein ledernes Gesicht womöglich noch gelber als zuvor, der Neid auf alle und alles zwackte ihn zum Erbarmen, und er hätte gerne und ohne Besinnen die ganze Welt untergehen lassen, wenn ihm das nur eine einzige Flasche Wein eingetragen hätte –!
Aber es kamen auch bessere Stunden für den alten Tierarzt. Da saßen dann plötzlich in diesem führenden Hotel am Platze Sommerfrischler oder Sportangler, die sich stets gerne Geschichten aus dieser vom Kriege kaum berührten Gegend erzählen ließen. Oder aber ein Landwirt sah den alten Mann da sitzen, plötzlich dachte er daran, wie lange er ihn schon nicht mehr auf den Hof gerufen hatte, und sein schlechtes Gewissen trieb ihn, sich Farken-Willem an den Tisch zu holen, mit ihm zu plaudern und ihm zu trinken zu geben, denn seine Schwäche war ja jedem bekannt.
Am schönsten aber war es, wenn in diesem Hotel der Stammtisch zusammenkam. Leider war das nur ein-, höchstens zweimal im Monat der Fall, dann nämlich, wenn der Herr Amtsgerichtsrat aus der Kreisstadt herübergekommen war, um im Städtchen den fälligen Gerichtstag zu halten. Sofort hängte sich dann der Hotelier ans Telefon, er benachrichtigte einen Großgrundbesitzer, den Dentisten, einen Landesproduktenhändler en gros und auch den Herrn Dr. Doll – freilich den alten Tierarzt nicht, der fand sich schon ohnedies ein.
Wie Doll in diese so scheckig zusammengesetzte Runde gekommen war, konnte er später kaum noch herausfinden. Zuerst – aber das lag schon Jahre zurück und war noch während seiner ersten Ehe, als er auf einem kleinen Hof in der Nähe des Städtchens wirtschaftete –, zuerst also hatten ihn wohl die so verschiedenartigen Trinkgenossen interessiert und vor allem ihre Geschichten, in denen besonders der alte Amtsrichter exzellierte, der auf diesem Gebiete bei weitem den Tierarzt schlug, dessen Witze oft gar zu grobschlächtig oder auch geradezu gemein waren. Aber Doll hatte bald gesehen, daß auch diese Menschen völlig aus dem Dutzend waren. Am zweiten Abend mußte der alte Amtsrichter seine Geschichten schon wiederholen, er wußte nur zehn oder zwölf, er war aber gerne bereit, sie auch hundertmal zu erzählen. Außerdem wurde seine Neigung immer deutlicher, sich Lebensmittel schenken zu lassen und die Bedienung um die Marken zu betrügen. Der Dentist hatte bloß Weibergeschichten im Kopf, seine Praxis war ihm nur ein Vorwand, den im Behandlungsstuhl liegenden Frauen erotisch zuzusetzen, und der alte Tierarzt war nichts wie ein jeden Tag gieriger und stumpfsinniger werdender alter Säufer.
So war es die ganze Runde herum. Plattes, alltägliches Gesindel die, zusammen mit ihrem fuchsischen Wirt, dem es nur ums Geldverdienen ging. Nein, Doll kam durchaus nicht immer, wenn ihn das Telefon zum Stammtisch rief, aber er kam doch recht häufig, vielleicht einfach darum, weil er sich auch einmal die Nase begießen wollte, oder weil auch er gerne gute Weine trank, und weil seine dörfliche Umgebung noch stumpfsinniger war als diese Runde. Er kam und trank und spielte den großzügigen Gastgeber, denn er war zu jenen Zeiten noch ziemlich gut mit Geld versehen, bei ihm kamen alle Freischlucker vom gierigen Tierarzt bis zum vorsichtigen Amtsrichter auf ihre Kosten. In sehr guten Nächten kroch dann wohl der dicke, weißhaarige Hotelier noch in die verschwiegensten Winkel seines Kellers, er brachte dick verstaubte Burgunderflaschen oder ›Mumm extra dry‹. Zu dem roten Wein aber holte er – ohne Marken! – herrliche Käse, die sie in tortenförmig geschnittenen Stücken aus der Hand aßen. Das waren Stunden voller Seligkeit für den alten Tierarzt, und seine Freundschaft für Doll schien fest begründet.
Aber das änderte sich, und wie meist, wenn Männerfreundschaften auseinandergehen, war eine Frau daran schuld. Wie der alte Amtsgerichtsrat auf diese junge strahlende Frau gekommen war, blieb dunkel; jedenfalls, als Dr. Doll eines Abends, etwas verspätet, zu der Stammtischrunde stieß, traf er dort die Frau eines Berliner Fabrikanten, der sich hier am Ufer eines der vielen Seen ein Blockhaus gebaut hatte, um über das Wochenende dem Angelsport zu huldigen.
Aber an diesem Abend war der Mann in der großen Stadt Berlin geblieben, und seine blutjunge Frau saß allein zwischen den Männern des Stammtischs, sie schüttelte ihre rotblonden Locken, sie sah mit ihrem länglichen Gesicht und vor allem mit ihrem schönen blutroten Munde jeden Sprecher aufmerksam an – es war ganz, als sähe dieser Mund die Menschen an. Dann warf sie den Kopf zurück, ihre kleine weiße Kehle schien vor Lachen zu tanzen – Himmel, wie sie lachen konnte, Gott, wie jung sie war! Doll drückte den alten Tierarzt beiseite und nahm neben dieser unglaubhaften Jugend Platz, sie saß nun auf dem langen Ecksofa zwischen Doll und dem alten Amtsgerichtsrat.
Wie jung sie war, was steckte für ein Leben in diesem Wesen, wie mitreißend konnte sie lachen über die dümmsten Geschichten des Amtsrichters! Doll fing selber an zu erzählen, und wenn einer gut erzählen konnte, so war er es. Das war kein fertiges hundertmal geleiertes