Der Lügendetektor. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
LUNATA
Der Lügendetektor
Kriminalroman
© 1932 by Edgar Wallace
Originaltitel The Man who Passed
Aus dem Englischen von Hans Herdegen
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
1
Bei den Leuten im Dorf war Mr. Mannering allgemein als ›Der Captain‹ bekannt. Er lebte in Woodern Green, das im äußersten südlichen Winkel von Buckingham liegt, und wahrscheinlich nannten ihn die Leute so wegen seines soldatischen Aussehens und seines schroffen Wesens.
Er wohnte in Hexleigh Manor, einem kleinen Haus, das in einem großen Park stand, und man erzählte sich, daß er nicht allzu viel Geld besäße. Das Gebäude befand sich in schlechtem Zustand, als er es übernahm, und er zahlte auch nur einen lächerlich kleinen Betrag als Miete. Interessenten, die vor ihm in das Haus hatten einziehen wollen, verlangten meist die Vornahme umfangreicher Reparaturen, und so war früher nie ein Mietvertrag zustande gekommen.
Der Captain hatte nicht darauf bestanden, sondern die notwendigsten Arbeiten selbst ausführen lassen. Er vergab jedoch keinen Auftrag an ortsansässige Handwerker.
Er beschäftigte drei Angestellte; zwei davon wohnten im Haus selbst, der dritte in einem kleinen Portierhaus, das ebenfalls auf dem Grundstück stand. Die drei hatten harte Gesichter und ließen sich nie im Dorf sehen. Man hielt sie alle für alte Soldaten, die während des Krieges unter dem Captain gedient hatten.
Lebensmittel wurden regelmäßig von den Dorfbewohnern im Portierhaus abgeliefert; es wurde niemand gestattet, zum Hauptgebäude zu kommen. Die Rechnungen ließ der Captain am Ende jeder Woche pünktlich durch Schecks auf eine Londoner Bank bezahlen.
Captain Mannering erhielt keine Post mit Ausnahme von Drucksachen und Rundschreiben. Er hatte offenbar weder Freunde noch nähere Bekannte.
Nachdem er ein Jahr lang still und zurückgezogen gelebt hatte, trat plötzlich eine Veränderung ein. Lastwagen mit teuren Möbeln kamen von London. Der wortkarge Mann am Eingang des Parks stellte drei Gärtner an, und ein Malermeister erhielt den Auftrag, das Haupthaus auszubessern und das Innere zu renovieren.
Mr. Reeder, der als Detektiv bei der Staatsanwaltschaft tätig war, wurde mit Hexleigh Manor auf eine ganz besondere Art bekannt. Alle Welt wußte, daß sein Hobby die Hühnerzucht war; er besaß eine Farm in Kent, wo er seltene und schöne Rassen zog. Auch Captain Mannering legte um diese Zeit einen Hühnerhof an, und der Mann, den er damit beauftragte, wandte sich an Mr. Reeder, der ihn als Sachverständiger beraten sollte.
Captain Mannering war nicht zu Hause, als Mr. Reeder hinkam. Fast jeden Tag fuhr der Captain in seinem Wagen zur Hauptstadt. Mr. Reeder konnte also nur mit dem Mann sprechen, der die Hühnerfarm errichten sollte.
Nachdem die Angelegenheit zur Zufriedenheit beider abgeschlossen worden war, kletterte Mr. Reeder wieder in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Der Weg hatte sich für ihn kaum gelohnt, aber daraus machte er sich nichts. Viel wichtiger war es für ihn, daß er einige seiner selbstgezogenen Tiere untergebracht hatte.
Er kam auch an dem Portierhaus in der Nähe des Parktors vorbei. Vor der Tür saß der Angestellte, der dort wohnte, und rauchte seine Pfeife. Er schaute nicht auf, aber Mr. Reeder erkannte ihn sofort.
»Da hört sich doch verschiedenes auf«, murmelte der Detektiv erstaunt, denn er kannte den Mann von früher her ganz genau.
Mr. Reeders Erinnerungsvermögen war berühmt. Damit und mit seiner unaufhörlichen Neugier fiel er manchen Leuten auf die Nerven.
In Scotland Yard erzählte man sich ein wenig neidisch, daß er außerordentlich viel Glück hätte. Man wußte von einer ganzen Anzahl von Fällen, bei denen ihm – wenigstens auf den ersten Blick hin – ein günstiger Zufall die Lösung erleichtert hatte.
Mr. Reeder war allerdings gegenteiliger Ansicht; er schrieb seine Erfolge nur seiner eigenen Tüchtigkeit zu.
Bei Gelegenheit, als er gerade einmal nicht soviel zu tun hatte, fuhr er wieder nach Wooden Green und stellte dort einige Nachforschungen an. Nicht, weil er glaubte, daß er davon im Moment irgendeinen Vorteil haben könnte – er wollte ganz einfach seine Neugierde befriedigen.
Es war bei ihm geradezu zur Gewohnheit geworden, Erkundigungen einzuziehen und scheinbar ganz unwichtige Nachrichten zusammenzutragen. Tatsachen sammelte er, wie etwa ein Mechaniker oder Bastler Schrauben und Ersatzteile sammelt – nicht, weil er sie im Augenblick benötigt, sondern weil er sie vielleicht irgendwann einmal brauchen kann.
Sein Vorgesetzter, dem er von seiner Entdeckung berichtet hatte, fragte ihn, was er erreicht hätte, und Mr. Reeder seufzte.
»Ich sehe eben überall nur das Schlechte, selbst bei ganz harmlosen Dingen. Wahrscheinlich kommt das daher, daß ich selbst einen schlechten Charakter habe – mit anderen Worten, den Charakter eines Verbrechers! Wenn ich mutig genug wäre – was Gott sei Dank nicht der Fall ist –, käme ich sicher selbst, auf die schiefe Ebene und geriete mit dem Gesetz in Konflikt.«
Der Vorgesetzte grinste verständnisvoll.
»Schon gut, Mr. Reeder – ich weiß Bescheid! Damit Sie auf andere Gedanken kommen, möchte ich Sie bitten, morgen Sir Wilfred Hainhall aufzusuchen. Hoffentlich sagt Ihnen Ihr Verbrecherinstinkt, wie Sie ihm am besten helfen können.«
Auf diese Weise lernte Mr. Reeder einen einflußreichen Bankkaufmann kennen, der in siebzehn Bankkonsortien zum Aufsichtsrat gehörte und im Präsidium von acht anderen Geldinstituten den Vorsitz führte. Sir Wilfred war über alles genauestens informiert, was sich im Geschäftsleben ereignete. Die Bilanzen einer ganzen Reihe von Firmen kannte er auswendig, und über die Situation des Welthandels war er so gut unterrichtet wie der Wirtschaftsminister selbst. Trotz allen geschäftlichen Spürsinns besaß er aber leider eines nicht – Menschenkenntnis.
Mr. Reeder suchte ihn im Auftrag der Staatsanwaltschaft auf, weil einer seiner Angestellten eine Unterschlagung begangen hatte. Im Anschluß an seine Ermittlungen erklärte Mr. Reeder, daß die Geschäftsmethoden ziemlich veraltet seien.
»Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, dann läßt ihr Kontrollsystem – hm – viel zu wünschen übrig.«
»Aber das stimmt doch gar nicht«, entgegnete Sir Wilfred entrüstet. »Wollen Sie mir etwa erzählen, wie man ein Geschäft führen muß? Ich glaube nicht, daß Sie der Staatsanwalt zu mir geschickt hat, damit Sie mir einen Vortrag über Buchführung halten!«
Er sagte noch mehr, aber Mr. Reeder konnte nicht viel erwidern, da ihn Sir Wilfred Hainhall kaum zu Wort kommen ließ. Die Unterredung fand ein ziemlich plötzliches Ende, da sich der Detektiv schließlich einfach umdrehte und das Haus verließ.
Am späten Nachmittag schlenderte Mr. Reeder durch Whitehall. Unterwegs sah er einen Mann, mit dem er sich gern etwas unterhalten hätte, der aber eilig weiterging. Es blieb Mr. Reeder nichts anderes übrig, als hinter dem Betreffenden herzulaufen und ihn am Ärmel zu zupfen.
»Was