WASTELAND - Schuld und Sühne. Russell BlakeЧитать онлайн книгу.
einer von Dukes Leuten, hatte Wachdienst.
»Wie ist die Lage?«, rief Lucas hinüber.
»Ziemlich gut«, antwortete Clem und winkte zurück.
»Danke, dass du nicht gleich losgeballert hast.«
»Keine Ursache. Hab dich doch auf eine halbe Meile erkannt«, sagte Clem und klopfte auf ein altes Teleskop, das auf einem Dreibein montiert war.
Lucas bemerkte die auffällige Mündungsfeuerbremse eines Barrett Scharfschützengewehrs Kaliber .50, die zwischen den Sandsäcken hervorlugte. Er hatte keinen Zweifel, dass Clem, hätte er ihn als Gefahr betrachtet, leicht aus einem Kilometer Entfernung hätte ausschalten können. Die Idee war, den Ärger zu beseitigen, bevor er in Schussweite kam. Zu viele Waffenlager waren geplündert und zu viele Waffen der Nationalgarde zurückgelassen und später eingesammelt worden. Diese Waffen waren jetzt im Umlauf und deshalb ließ man keinen Fremden nahe an sich heran. Zählte man die Panzerfäuste und Granaten hinzu, die man bei den mexikanischen Kartellen kaufen konnte, sowie automatische Waffen aller Art, dann war Vorsicht die Mutter der Porzellankiste.
Clem deutete auf die Trage. »Wen hast du da drauf?«
»Eine Frau. Verletzt. Ist Duke in der Nähe?«
»Klar doch. Aber vermutlich ziemlich schlecht drauf. War spät gestern Nacht.«
Duke trank gerne mal einen. Je öfter, desto mehr, wie Lucas wusste, denn der Händler war ein großer Freund von Großvaters Elixier. »Sie braucht dringend Hilfe.«
»Wie schlimm hat es sie erwischt?«, fragte Clem.
»Ziemlich übel.«
Der rechte Torflügel öffnete sich und Clem nickte Lucas zu, als dieser hindurchritt. »Kannst dein Pferd da bei der Tränke anbinden«, sagte er.
»Muss auch gefüttert werden«, gab Lucas zurück.
»Alles hat seinen Preis.«
»Dachte ich mir schon.« Er zügelte Tango, der auf der Stelle tänzelte. »Ich könnte Hilfe gebrauchen, um sie ins Haupthaus zu tragen.«
»Die Jungs sind drin. Helfen dir sicher. Ich muss hier auf Posten bleiben. So sind die Regeln.«
Lucas band Tango an einen Pfosten und das Pferd begann gierig zu saufen. Lucas nahm die Stufen zu dem Backsteingebäude hinauf und klopfte an die Stahltür. Zu seiner Linken sah er eine Anordnung von Solarpaneelen in der Sonne glänzen, die so hinter einer Schutzwand im Innenhof aufgestellt waren, dass sie den ganzen Tag möglichst viel Sonne einfingen.
Die Tür öffnete sich und einer von Dukes Männern musterte ihn. »Was ist?«
»Ist Duke schon wach?«
»Kann sein. Wer fragt?«
Lucas' Augen verengten sich. Er hielt dem Blick des Mannes stand. »Bist wohl neu hier?«
»Stimmt. Na und?«
»Sag ihm, dass Lucas da ist. Hab eine verwundete Frau dabei, die Hilfe braucht.«
Die Tür knallte hinter dem Mann zu. Zwei Minuten später erschien Duke auf der Schwelle, mit blutunterlaufenen Augen über dicken Tränensäcken. Sein strohiges Haar und die rote Gesichtsfarbe erzählten einem auf den ersten Blick seine gesamte Lebensgeschichte.
Lucas Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Wohl vom Blitz getroffen oder was?«, fragte er.
»Unsinn. Ich hab nur ein wenig meditiert«, antwortete Duke mit einer Stimme wie Sandpapier. »Was ist los? Doug erzählte, du hättest eine Dame in Not?«
Lucas beäugte ihn skeptisch. »Kriegst du das denn überhaupt hin?«
»Allzeit bereit. Ist mein zweiter Vorname.« Duke blickte an Lucas vorbei auf die Trage, drehte den Kopf und brüllte ins Innere des Gebäudes hinein: »Doug! Aaron! Helft mir, die Frau ins Esszimmer zu bringen. Macht schon, Tempo!«
Der Mann, der an der Tür gewesen war und ein klein gewachsener, tonnenförmiger Afroamerikaner, den Lucas als Aaron erkannte, drängten sich an ihm vorbei und liefen zu der Frau hinüber. »Sachte, Männer«, warnte Lucas und sah mit Duke dabei zu, wie sie ins Gebäude getragen wurde.
Duke winkte Lucas heran. »Kannst gleich mit reinkommen. Ich nehme an, du hast ein paar Sachen im Tausch für meine Hilfe?«
»Klar doch.«
»Dann sag ich mal: Mi casa … und der ganze Scheiß.«
Lucas folgte Duke ins Esszimmer. Aaron und Doug hatten die Frau auf einem großen, rechteckigen Holztisch abgelegt. Duke schnippte mit den Fingern. »Bring mir das Vergrößerungsglas und eine von den tragbaren LED-Lampen«, befahl er Doug.
Doug, dessen Arme mit Militärtattoos übersät waren, nickte und eilte wortlos davon.
Lucas räusperte sich. »Neuer Mann?«
Duke nickte, ohne die Augen von der Frau zu nehmen. »Solomon hat ins Gras gebissen.«
»Eine Schande. Ich mochte ihn. Wie denn?«
»Schlangenbiss«, sagte Duke kopfschüttelnd. »Der Junge war nie der Hellste.«
Doug kehrte mit einer Arbeitsleuchte auf einem Stativ und einem riesigen Vergrößerungsglas zurück, das an einem olivgrünen Gelenkarm befestigt war. Duke nahm es ihm ab, klemmte es an der Tischplatte fest und deutete dann auf ein Verlängerungskabel in der Ecke. Doug schloss die Lampe an und der ganze Raum wurde mit ihrem hellen, weißen Licht geflutet.
Lucas blinzelte. »Die Batterien sind noch gut, wie ich sehe.«
»Tagsüber betreiben wir alles direkt über die Paneele. Verbraucht ja auch fast nichts.«
»Clever. Meine laufen auch noch.«
»Wir sollten noch etwa drei Jahre plus X aus den Batterien herausquetschen, denke ich«, erklärte Duke. »Bis dahin ist das Stromnetz längst wieder in Ordnung.«
Beide Männer grinsten bei der Bemerkung.
»Das erzählen sie uns doch schon mindestens seit fünf Jahren«, sagte Lucas.
»Angeblich waren wir nie dichter dran als jetzt. Ich habe gehört, die Verantwortlichen hätten DC wieder am Netz. Oder einen Teil der Stadt.«
Lucas hob eine Augenbraue. »Ist das bestätigt?«
»Ein kleiner Vogel hat es einem anderen zugezwitschert, das wiederum hat ein Kerl gehört, der es dann mir erzählt hat.«
Eine der Legenden im Hoffnungsszenario der Überlebenden war, dass irgendjemand die Ordnung wiederherstellte, sodass die Regierung das Land wieder zum Laufen bringen konnte. Allerdings ignorierten sie dabei die Tatsache, dass die Regierung aus Menschen und nicht aus Superhelden bestand, von denen die meisten noch nicht einmal die eigentliche Arbeit machten. Doch die fleißigen Arbeiter, die wussten, wie man ein Kraftwerk am Laufen hielt, wie man eine Turbine reparierte oder wie man die Leute davon abhielt, die Kupferkabel der Stromleitungen zu stehlen, hatten es einfach sattgehabt. Die Menschen, die man sonst davon überzeugen konnte, auch dann noch unentgeltlich LKWs und Züge mit dem Notwendigsten zu fahren, wenn bereits eine Seuche wütete und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, hatten ihren Unwillen deutlich gezeigt: Sie waren stattdessen zu Hause geblieben und hatten ihre Familien beschützt.
So einen Schwarzen Schwan, so genannt, weil es sich um ein unvorhersehbares Ereignis handelte, in diesem Fall eine Kombination aus einer Supergrippe – wobei es keine Rolle spielte, ob sie von Flüchtlingen, illegalen Migranten oder Kriegsheimkehrern eingeschleppt worden war – und einem globalen Finanzcrash, hatte niemand vorhergesehen. Dafür hatte es keinen Notfallplan gegeben. Und als es dann geschah, war die Zivilisation schneller zerfallen, als man es je für möglich gehalten hätte.
Trotzdem verging keine Woche, in der nicht irgendjemand aus zuverlässiger Quelle gehört hatte, dass irgendwo anders alles längst wieder in Ordnung war und die Männer in den schwarzen Anzügen verzweifelt daran arbeiteten, die Nation wiederherzustellen.