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Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen


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Hand auf den Arm. Hirka zuckte zusammen.

      »Warte hier«, sagte Ǫni und ging zu Skerri und Grid, die ein Stück vor ihnen stehen geblieben waren.

      Hirka ging zu Kolail. »Was haben sie zu besprechen? Wo liegt das Problem?« Die Angst machte ihr zu schaffen. Sie hatte sich vor dem hier gegraust, seit sie angekommen war, und das Warten war das Schlimmste. Konnten sie es nicht endlich hinter sich bringen und zusehen, dass sie die Stadt erreichten?

      »Sie diskutieren, welchen Weg sie nehmen und wie sie dich ungesehen durch die Stadt bringen sollen.« Kolails Stimme erinnerte an die von Naiell. Rau wie bei einem Raben und tief aus der Brust.

      »Können wir das nicht alle zusammen diskutieren?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Merkte, dass es nicht mehr so kalt war.

      »Sie sind Dreyri. Sie diskutieren nicht mit anderen.«

      Er hatte recht. Bisher hatte sie noch nicht erlebt, dass Skerri jemanden in eine Entscheidung einbezog oder um Rat fragte. Allenfalls besprach sie sich mit Grid, der offenbar würdig genug war. Aber auch ihn behandelte sie wie einen Welpen.

      Kolail sprach leise, wohl wissend, dass sie überhaupt nicht miteinander reden sollten. »Zuerst einmal müssen sie dich nach Hause bringen. Dann müssen sie was Anständiges aus dir machen. Eine Dreyri. Gelingt ihnen das, werden sie dich Hods Haus vorstellen, nehme ich an. Bis dahin bist du ein Geheimnis. Niemand darf dich sehen oder riechen. Du wirst offiziell vorgestellt werden. Mit viel Spektakel, könnte ich mir denken.«

      Er hörte sich an, als ob er es hasste, sich aber trotzdem darüber amüsierte.

      »Dann schleichen wir uns eben hinein! Verstecken uns.«

      »Sie sind Dreyri. Sie …«

      »Verstecken sich vor niemandem, jaja, ich verstehe langsam, wie das läuft.«

      Kolail lachte wiehernd. »Also, vielleicht überlebst du länger als ich.«

      Hirka stocherte mit dem Stock im Schnee. Sie wusste genau, wovon er sprach. Seiner Strafe. Die sie sich auf Skerris Anweisung hin ausdenken sollte.

      Kolail spuckte in den Schnee. »Sie wird nichts anderes akzeptieren, als dass ich Rabenfutter werde. Und du wirst dich fügen müssen.«

      Hirka sah ihn an. Bekam Lust, ihm mit der Faust auf den Stahltropfen in der Stirn zu schlagen, sodass er es richtig merkte.

      »Sieht es so aus, als hätte ich ein Talent dafür, mich zu fügen?«

      Kolail antwortete nicht.

      Ǫni kam zurück. Der Saum ihrer Tunika war nass vom Schnee.

      »Sie werden dich von der Südseite hineinbringen.« Sie klang beinahe entschuldigend.

      Kolail meckerte. »Von Süden? Wirklich? Da haben sie sich ja was ausgedacht. Ich glaube, keiner von ihnen hat jemals seinen Fuß dorthin gesetzt.«

      Ǫni schürzte die Lippen und tat, als hätte sie ihn nicht gehört. »Skerri will vermeiden, dass wir auf Dreyri treffen, vor allem aus höheren Häusern. Deshalb müssen wir andere Wege gehen. Komm.«

      Sie bogen um einen Felsvorsprung und vor ihnen öffnete sich die Landschaft in alle Richtungen. Ein Gletscher erstreckte sich bis zum Horizont, so weit, dass sie kein Ende sah. Er wurde eins mit dem Himmel. Weiß gegen Grau.

      An mehreren Stellen hatten sich Gletscherspalten gebildet, was hoffentlich bedeutete, dass sie ihn nicht überqueren mussten.

      »Ginnungad«, sagte Ǫni und nickte zu dem Gletscher.

      Hirka schirmte die Augen mit der Hand ab, sah aber keine Stadt. Nichts, was auch nur entfernt an Behausungen erinnerte.

      »Wo?«

      »Das wirst du bald sehen«, erwiderte Ǫni.

      Sie gingen über den nackten Bergkamm weiter. Gelbes Heidekraut schaute aus dem Schnee. Hirka wurde mehr und mehr klar, dass die Gletscherspalten viel größer waren, als sie zuerst gedacht hatte. Es war ein ganzes Netz aus Spalten. Sie zogen sich wie Adern durchs Eis. An mehreren Stellen stieg Rauch empor, und plötzlich ging Hirka auf, was sie sah.

      Sie blieb stehen, gelähmt von dem Ausmaß. Gegen diese Gletscherspalten war die Alldjup-Schlucht ein Kratzer in der Erde. Das hier waren Abgründe. Sie schnitten tief ins Eis und durch den schwarzen Fels darunter. Hirka konnte Öffnungen in den senkrechten Wänden erahnen. Siedlungen. Rauch. Lichter. Treppen.

      »Im Eis … Die Stadt liegt im Eis …«

      »Nicht ganz«, antwortete Ǫni, anscheinend unbeeindruckt. »Das ist Grundgestein mit einer dicken Eisschicht darüber. Viele Straßen und Häuser liegen im Berg, deshalb siehst du sie von hier oben nicht, aber schau …« Sie zeigte in die Ferne. »Dort, wo das Eis blauer ist, da ist nur Eis. Du kannst es von hier aus nicht sehen, aber die Stadt erstreckt sich bis zum Meer.«

      Ǫni zog sie mit sich weiter. Hirka wäre fast gestolpert, es war schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Ganz hinten am Horizont sah sie eine dunkle Vertiefung im Eis. Eine Kante? Ein gefrorener Wasserfall?

      Es dämmerte und Hirka fiel sofort wieder ein, wie schnell hier die Nacht kam. Bald würde man die Hand nicht mehr vor Augen sehen können.

      Skerri blieb stehen. Die anderen taten es ihr nach, wie ein Echo. So war es immer. Ǫni setzte ihren Rucksack ab und suchte eine graue Tunika heraus, die sie Hirka gab. »Hier, zieh das an.«

      Hirka gehorchte. Mehr Kleidungsstücke anzuziehen, das musste man ihr nicht zweimal sagen. Skerri kam zu ihnen und setzte Hirka die Kapuze auf.

      »Lass sie auf, bis wir zu Hause sind. Achte darauf, dass niemand dein Gesicht sieht. Oder deine Hände. Und ab sofort sagst du kein Wort mehr, verstanden?«

      Hirka nickte.

      Die Kapuze hing ihr tief ins Gesicht. Das Einzige, was sie sehen konnte, war der Boden direkt vor ihr. Skerri führte die kleine Gruppe in eine Talsenke, wo zwei Wege aufeinandertrafen. Noch bevor sie unten angekommen waren, war es dunkel.

      Sie gingen den Weg weiter, jetzt enger beisammen als zuvor.

      Eine Felswand ragte ein Stück vor ihnen im Tal auf, schwarz und massiv vor dem Nachthimmel. Hirka legte den Kopf in den Nacken. Die Wand war so hoch, dass sie zu schwanken schien.

      Der Weg mündete in einen Tunnel, eine eiförmige Öffnung im Fels. Hirka kam sich vor wie ein Insekt, als sie hineingingen. Verschluckt von einem riesigen, schwarzen Nichts. Die Wände waren glatt wie schwarzes Glas. Wenn etwas mit der Gabe geschaffen worden war, dann musste es dies sein. Kein lebendiges Wesen konnte so etwas meißeln.

      Dann kamen die Geräusche. Echos von etwas, das sich auf der anderen Seite befand. Wieder tauchte eine Öffnung auf. Ein eiförmiger Mund am Ende des Tunnels. Es war, als ginge man durch einen Schlangenhals und würde ausgespuckt. Hinaus auf eine Straße.

      Hirka konnte gerade noch einen überraschten Ausruf unterdrücken. Die Straße befand sich auf dem Grund einer Schlucht. Schwarze Felswände ragten zu beiden Seiten auf, so hoch, dass Hirka unter ihrer Kapuze das obere Ende nicht sehen konnte. Häuser waren direkt aus dem Felsgestein gehauen worden. Türen, Fenster, Balkons ohne Geländer, Treppen … Wege und kleine Passagen wanden sich in verschiedenen Höhen, verschwanden im Berg und kamen anderswo wieder heraus. Und das Aufsehenerregendste von allem: eine Unzahl von Brücken.

      Davon gab es so viele, dass es aussah, als hätte jemand versucht, die Felswände zusammenzukleben. Hätte sie mit Teer bestrichen und wieder auseinandergerissen, sodass zahllose zähe, leimartige Fäden zwischen ihnen erstarrt waren. Dicke und dünne. Hoch oben und tief unten.

      Ihr war selbst nicht klar, was sie erwartet hatte. Eine Art tief verschneites Ravnhov vielleicht? Das hier jedenfalls nicht.

      Und Leute waren hier! Blinde. Totgeborene. Leute, die lachten. Redeten. Riefen. Sie saßen an Tischen und tranken. Zogen Karren, darauf Käfige mit kleinen Vögeln und Fässer voller Fisch, Kleiderbündel und Werkzeug.


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