Schwarzes Echo. Michael ConnellyЧитать онлайн книгу.
Temperaturverlust in der Leber. Osito hat drinnen abgelesen, es waren siebenundzwanzig Grad. Zehn Minuten später waren es neunundzwanzig. Wir haben keine feste Temperatur, weder in der Leiche noch im Rohr.«
»Also?«, fragte Bosch.
»Also werde ich Ihnen hier nichts sagen können. Ich muss ihn mitnehmen und ein bisschen rechnen.«
»Sie meinen, Sie wollen ihn jemandem geben, der weiß, wie man es ausrechnet?«, fragte Bosch.
»Sie werden es schon erfahren, wenn Sie zur Autopsie kommen. Keine Sorge, Mann.«
»Apropos, wer schneidet denn heute?«
Sakai antwortete nicht. Er war mit den Beinen des Toten beschäftigt. Er nahm die beiden Schuhe und verdrehte die Fußgelenke. Er schob seine Hände die Beine hinauf und fasste unter die Oberschenkel, hob die Beine an und beobachtete, wie sie an den Knien einknickten. Dann drückte er mit den Händen auf den Unterleib, als suche er nach geschmuggelten Drogen. Schließlich langte er in das Hemd und versuchte, den Kopf des toten Mannes herumzudrehen. Doch der rührte sich nicht. Bosch wusste, dass Leichenstarre am Kopf begann, dann den Körper und anschließend die Gliedmaßen steif werden ließ.
»Der Hals dieses Mannes sitzt bombenfest«, sagte Sakai. »Der Magen steht kurz davor. Nur die Gliedmaßen lassen sich noch gut bewegen.«
Er zog einen Bleistift hinter dem Ohr hervor und drückte das Radiergummiende an der Seite des Rumpfes gegen die Haut. Rötliche Flecken zeigten sich auf dem Teil der Leiche, der dem Erdboden am nächsten war, so als wäre der Mann mit Rotwein abgefüllt. Es waren Leichenflecken. Wenn das Herz aufhört zu pumpen, sucht sich das Blut den tiefsten Punkt. Als Sakai den Bleistift gegen die dunkle Haut drückte, färbte sie sich nicht weiß, ein Zeichen dafür, dass das Blut vollständig geronnen war. Der Mann war seit Stunden tot.
»Die Leichenfärbung ist gleichmäßig«, sagte Sakai. »Das, zusammen mit der Spritze, sagt mir, dass der Bursche vielleicht sechs bis acht Stunden tot ist. Bis wir mit den Temperaturen arbeiten können, muss Ihnen das genügen, Bosch.«
Sakai sah nicht auf, als er es sagte. Er und Osito fingen an, die Taschen in den grünen Militärhosen des Toten umzudrehen. Sie waren leer, ebenso wie die großen, ausgebeulten Taschen an den Oberschenkeln. Sie rollten die Leiche auf die Seite, um in den Gesäßtaschen nachzusehen. Während sie damit beschäftigt waren, beugte sich Bosch hinab, um einen Blick auf den nackten Rücken des Toten zu werfen. Die Haut war schmutzig und gerötet von Leichenflecken. Aber er sah keine Kratzer oder sonstige Spuren, die den Schluss zuließen, dass die Leiche über den Boden geschleift worden war.
»In der Hose ist nichts, Bosch, kein Ausweis«, sagte Sakai.
Dann begannen sie vorsichtig, dem Toten das schwarze Hemd auszuziehen. Er hatte struppiges Haar mit vielen grauen Strähnen, kaum noch schwarz, was es einmal gewesen sein mochte. Der Bart war ungepflegt, und er sah aus wie etwa fünfzig, woraufhin Bosch ihn auf etwa vierzig schätzte. In der Brusttasche des Hemdes fand sich etwas. Sakai fischte es heraus, betrachtete es einen Augenblick, dann legte er es in den Plastikbeutel, den sein Partner offenhielt.
»Bingo«, sagte Sakai und reichte Bosch den Beutel nach oben. »Das ist doch eine Spur. Erleichtert uns den Job um einiges.«
Als Nächstes zog Sakai die Augenlider des toten Mannes hoch. Die Augen waren blau und von einem milchigen Film überzogen. Beide Pupillen hatten sich zur Größe einer Bleistiftmine zusammengezogen. Ausdruckslos starrten sie Bosch an, jede Pupille ein kleines, schwarzes Vakuum.
Sakai machte sich ein paar Notizen auf einem Klemmbrett. Seine Entscheidung in diesem Fall war getroffen. Dann zog er ein Stempelkissen und eine Karte aus der Angelkiste neben sich. Er färbte die Finger der linken Hand ein und begann, sie darauf zu pressen. Bosch bewunderte, wie schnell und geschickt er arbeitete. Aber dann erstarrte Sakai.
»Hey, sieh sich das mal einer an.«
Vorsichtig bewegte Sakai den Zeigefinger. Er ließ sich leicht in alle Richtungen drehen. Das Gelenk war sauber gebrochen, aber man sah keine Spur einer Schwellung oder Blutung.
»Ich würde meinen, das war nachträglich«, sagte Sakai.
Bosch beugte sich vor, um genauer sehen zu können. Er nahm die Hand des Toten und betastete sie selber. Er sah Sakai an, dann Osito.
»Bosch, damit brauchen Sie gar nicht erst anzufangen«, bellte Sakai. »Sehen Sie ihn nicht so an. Er weiß, was er tut. Ich habe ihn selbst ausgebildet.«
Bosch erinnerte Sakai nicht daran, dass er höchstpersönlich am Steuer des Wagens gesessen hatte, aus dem vor ein paar Monaten eine Bahre samt Leiche gerollt war, mitten auf den Ventura Freeway. Während der Rushhour. Die Bahre war die Ausfahrt am Lankershim Boulevard hinuntergerollt und an einer Tankstelle ins Heck eines Wagens geknallt. Wegen der Trennwand aus Fiberglas hatte Sakai erst am Leichenschauhaus bemerkt, dass der Tote unterwegs auf der Strecke geblieben war.
Bosch überließ dem Helfer die Hand des toten Mannes. Sakai wandte sich Osito zu und stellte ihm eine Frage auf spanisch. Ositos kleines, braunes Gesicht wurde sehr ernst, und er schüttelte energisch den Kopf.
»Er hat die Hände des Mannes nicht angerührt. Also warten Sie bis zur Autopsie, bis Sie etwas sagen, was Sie nicht genau wissen.«
Sakai fuhr fort, die Fingerabdrücke zu nehmen, dann reichte er Bosch die Karte.
»Tüten Sie die Hände ein«, sagte Bosch zu ihm, obwohl es nicht nötig war. »Und die Füße.«
Er stand wieder auf und wedelte mit der Karte, um die Tinte zu trocknen. In der anderen Hand hielt er die Plastiktüte mit den Beweisstücken, die Sakai ihm gegeben hatte. Darin hielt ein Gummiband eine Injektionsspritze, eine kleine Ampulle, halb voll mit etwas, das wie schmutziges Wasser aussah, ein Stück Watte und ein Streichholzheftchen zusammen. Es war ein Fixerbesteck, und es sah ziemlich neu aus. Die Nadel war sauber, ohne jede Spur von Rost. Die Watte, schätzte Bosch, war nur ein- oder zweimal als Sieb benutzt worden. In den Fasern sah man winzige, weißlich braune Kristalle. Als er den Beutel umdrehte, konnte er beide Seiten des Streichholzheftchens sehen und ihm fiel auf, dass nur zwei Streichhölzer fehlten.
In diesem Augenblick kam Donovan aus dem Rohr gekrochen. Er trug einen Bergarbeiterhelm mit einer Grubenlampe. In einer Hand hielt er mehrere Plastiktüten, in denen sich jeweils vergilbtes Zeitungspapier, Lebensmittelverpackungen, eine zerdrückte Bierdose befanden. In der anderen hielt er ein Klemmbrett, auf dem eingezeichnet war, wo jeder dieser Gegenstände in der Röhre gelegen hatte. Spinnweben hingen an den Seiten des Helms. Schweiß lief über sein Gesicht und verfärbte die Atemmaske, die er über Mund und Nase trug. Bosch hielt die Tüte mit dem Fixerbesteck hoch. Abrupt blieb Donovan stehen.
»Hast du da drinnen eine Pfanne gefunden?«, fragte Bosch.
»Scheiße, das ist ein Junkie?«, sagte Donovan. »Ich wusste es. Wozu machen wir hier den ganzen Mist?«
Bosch antwortete nicht. Er wartete ab.
»Ja, ich habe eine Coladose gefunden«, sagte Donovan.
Der Spurensicherungsexperte sah die Plastiktüten durch und reichte Bosch eine herüber. Sie enthielt zwei Hälften einer Coladose. Die Dose sah einigermaßen neu aus und war mit einem Messer in zwei Teile geschnitten worden. Die untere Hälfte hatte man umgedreht und die konkave Oberfläche als Pfanne benutzt, um darin Heroin und Wasser zu kochen. Die meisten Junkies benutzten keine Löffel mehr. Einen Löffel bei sich zu haben, war ein möglicher Grund, verhaftet zu werden. Dosen waren leicht zu beschaffen, leicht zu benutzen und zu vernichten.
»Wir brauchen die Fingerabdrücke vom Besteck und von der Pfanne, so bald wie möglich«, sagte Bosch. Donovan nickte und schleppte die Plastiktüten zum Transporter. Bosch wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Männern vom Coroner zu.
»Er hat kein Messer bei sich, stimmt’s?«, sagte Bosch.
»Stimmt«, sagte Sakai. »Wieso?«
»Ich brauche ein Messer. Unvollständiger Tatort ohne Messer.«
»Na und? Der Typ ist ein Junkie. Junkies