Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
Pension, sehnte sie sich keinen Augenblick nach ihrem Walde, nach den Gewittern und der Holzfällerhütte; sie hatte ihren kleinen Genossen, der zwischen den Stäben seines Bauers, in ihrem Zimmer auf sie wartete. Sie dachte immer an ihn, ließ es sich aber nie anmerken und bekam ein hartes, abweisendes Gesicht, wenn jemand von ihm sprach.
Niemand übte Kritik an ihren Seltsamkeiten; man konnte Lola nur anstaunen: denn in diesem Winter verwandelte sie sich und ward schön. Die große Natur, der sie im Sommer sich hingegeben hatte, schien in ihr fortzublühen und Ebenmaß und Vollendung zu wirken. Lola tastete nach ihren Schultern, deren Spitzen nicht mehr zu spüren waren, nach ihren Gliedern, die sich formten und ihr nicht mehr den Eindruck machten, als seien sie zu lang und schlenkerten locker umher; und sie fragte sich mit gerunzelten Brauen, was werden solle. Ihr Schicksal war doch schon fertig gewesen? Auf einmal befiel sie eine betäubende Freude, eine neue entzückende Selbsterkenntnis. „Das also bin ich!“ So oft sie konnte, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück: „um nach meinem Vogel zu sehen;“ aber sie sah nicht mehr nach ihm, sie sah nur nach sich selbst; und des abends ging sie früher hinauf als die übrigen, um allein mit ihrem Spiegel zu sein. Er zeigte ihr eine goldblonde, große Haarwelle von nie geahnter Weichheit über einer Stirn, deren Höhe nicht mehr auffiel; zeigte ihr so genau und zart hingezeichnete Brauen über so warm glänzenden Augen, so fein gefügte Lippen, schmal und feuchtrot; die Wangen, die sie noch ein wenig voller wünschte, füllten sich genau in der Linie, die sie wünschte; färbten sich, wie sie’s verlangt hatte; und war diese weich gebogene Nase jemals häßlich und zu groß gewesen? Lola erfuhr, sie könne ein sehr damenhaftes Gesicht annehmen, das sie fast selbst verlegen machte, und, wenn sie das Haar auflöste, ein ganz kindliches. Beim Öffnen der Bluse freute sie sich auf die schlanke, weiße Biegung ihres Halses, beim Ablegen des Mieders auf ihre Brust. Sie hätte sich gern ganz gesehen: aber Erneste konnte eintreten; und als Lola es dennoch gewagt und den Spiegel auf den Fußboden gestellt hatte, lag sie gleich darauf im rasch verdunkelten Zimmer mit Herzklopfen unter der Decke, und ihr war zumut, als kehre sie zurück von einem heimlichen Ausgange, sie wußte nicht wohin.
Wer war so schön und vermochte so viel? Natürlich: jetzt drängten alle heran, ihre Freundinnen zu werden! Lola legte ihnen Prüfungen auf, ließ sich einen Gegenstand schenken, an dem der andern viel lag: nur um ihre Macht zu fühlen. Dann gab sie das Geschenk zurück und sagte, sie könne niemandes Freundin sein; die Freundin mehrerer am wenigsten. Freundschaft: ihr sagte das Wort zu viel. Nachdem die Ihren sie verlassen hatten, konnte ihr Freund, wenn sie einen hatte, nur auf einem andern Sterne leben! und vieler Schmerzen, eines Lebens voller Schmerzen bedurfte es sicherlich, bis sie zusammentrafen. Die Gefühle dieser Menschen hier waren zu billig. Lola horchte nicht mehr argwöhnisch, ob von ihr gesprochen wurde. Häßlich und fremd, hatte sie die Menschen gehaßt. Fremd und schön, sah sie von ihnen weg. Freundinnen? Diese Berta, diese Grete, die sich noch gestern Abend um einen Pfannkuchen gestritten hatten, bis beide weinten?
Wenn Lola jetzt an einen Aufsatz gehen wollte, fand sie den fertigen Entwurf, von einer Hand, die sie nicht kannte, schon in ihrem Heft liegen. Von derselben Hand bekam sie Briefe voll schmachtender Freundschaft. Anfangs warf sie sie weg; dann spürte sie Lust, eine Probe zu machen. Sie tat kund, sie habe etwas Merkwürdiges, und versammelte alle Pensionärinnen um sich. Unvermutet zog sie einen der Briefe hervor, hielt ihn empor: „Wer hat das geschrieben?“ und sah dabei fest in die Gesichter. Alle reckten sich neugierig: nur das der langen Asta sah nicht den Brief an, sondern Lola, und blinzelte befangen. Lola steckte den Brief wieder ein. „Danke,“ sagte sie und drehte sich um.
Am Nachmittag lag zwischen ihren Schulbüchern ein neuer Brief: diesmal in Astas Schrift. Asta bat sie, um sechs in die Gartenlaube zu kommen, sie werde alles erfahren. Lola war entschlossen, nicht hinzugehen. Als es dämmerte, saß sie am Fenster ihres Zimmers. Drunten stapfte Asta, lang und gebückt, in Gummischuhen durch den Schnee. Lola sah nachdenklich zu. Plötzlich nahm sie ihren Mantel und stieg hinab.
„Nun?“ fragte sie und trat unversehens hinter den Lebensbäumen hervor. Asta schnellte von der Bank auf.
„Verzeih,“ stammelte sie. „Verzeih! Ich wollte dich nicht belügen, aber im Beisein der andern konnte ich dir’s nicht sagen.“
„Es tut nichts,“ entgegnete Lola. Dieser kleine magere Kopf mit dem dünnen Haar und der Nase wie bei einem Totenschädel erbarmte sie. Sie stellte sich vor, sie hätte ihn küssen sollen, und ihr schauderte. Noch mehr aber fürchtete sie sich davor, diesem Wesen weh zu tun.
„Wer hat denn für dich geschrieben?“ fragte sie sanft. Asta schlug die Augen nieder.
„Ich habe meine Briefe einem der Dienstmädchen mitgegeben, und sie hat sie in der Stadt abschreiben lassen.“
Sie atmete beklommen.
„Wie du gütig bist, Lola, daß du kommst. Ich verdiene das nicht.“
„Warum nicht?“ fragte Lola, und fand ihre Frage nicht ganz ehrlich.
„Weil du so schön bist und so reizend. Alle möchten dich zur Freundin: wie komme gerade ich dazu, mich dir aufzudrängen. Aber sieh, ich kann nicht anders. Ich weiß bestimmt, daß kein anderer Mensch mir je so nahe stehen wird wie du. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich meine Mutter und meinen kleinen Bruder noch lieb habe. Aber wenn ich an dich denke — und wann dächte ich nicht an dich? — dann habe ich Mutter und Bruder nicht mehr lieb. Hörst du? nicht mehr lieb.“
„Was willst du denn von mir?“
„O! Lola!“
Und Lola, die nicht abzuwehren wagte, fühlte sich umschlungen. Sie bog den Kopf zurück, um aus Astas Atem zu entkommen; aber ein paar Hände schlichen fieberhaft um ihren Leib, unter ihrer Brust hin.
„Fühlst du gar nicht, was ich meine? Gar nicht?“ Vorwurfsvoll und flehend.
„Gar nicht!“ sagte Lola mit Nachdruck; denn Angst stieg in ihr auf. Im Begriff, sich loszumachen, meinte sie ein Kichern zu hören. Der Gedanke an Lauscher empörte sie. „Ich bin nicht gekommen,“ dachte sie, „diese hier zu verhöhnen. Ich habe nichts mit ihr gemein; aber auf seiten der andern stehe ich erst recht nicht.“ Sie sagte laut, wie für Zuhörer:
„Aber dies kann ich trotzdem tun.“
Und rasch küßte sie Asta auf die Wange. Wie sie ging, schluchzte es hinter ihr auf. Oft noch hörte sie, wenn sie allein war, dies Schluchzen und spürte wieder die Angst, die die fieberhaften Hände jenes Mädchens ihr beigebracht hatten: sie begriff nicht, warum.
Jenny klärte sie auf. Ostern war nahe, und Jenny, die konfirmiert werden sollte, ging im voraus mit einem feierlichen Gesicht umher. Es war schon so rot und nur noch wenig kleiner als das ihrer Mutter. Wie sie Lola einst im Garten traf, faßte sie sie unter den Arm und sagte:
„Lola, du bist manchmal recht unvorsichtig: ich als die Ältere möchte dich warnen. Ja, sieh mich nur an! Du kannst von Glück sagen, daß ich neulich hinter den Lebensbäumen stand. Wenn Asta mich nicht hätte husten hören, wer weiß, was sie mit dir angestellt hätte.“
„Du hast nicht gehustet, du hast gekichert; und Asta hat es gar nicht gehört.“
„Du glaubst nicht, wie schlecht manche Mädchen sind. Und die Herren . . .“
Ein Instinkt benachrichtigte Lola, es komme etwas Peinliches, und sie wollte einfallen. Aber Jenny war nicht aufzuhalten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren: bald verließ sie die Pension. Sie bot Lola nicht mehr an, sie mit einem Leierkastenmann bekannt zu machen: solche Scherze lagen hinter ihr. Aber Lolas Naivetät war doch nicht mit anzusehen.
„Ich glaube dir einen wirklichen Dienst geleistet zu haben;“ so schloß sie ihre deutlichen Ausführungen.
„Nun ja,“ machte Lola und hob die Schultern. Ihr war beklommen; um so hochmütiger sagte sie sich: „Ich habe mir die Menschen ganz richtig vorgestellt: Dies setzt allem die Krone auf.“ Sie äußerte:
„Du entschuldigst wohl, ich muß meinem Vogel Futter geben.“
Aber den Vogel, der sie langweilte, vergaß sie gleich wieder und dachte einige Tage an nichts so inständig, wie an