Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
betasten, immer wieder feststellen, dass an ihrem in falschen Verhältnissen aufgeschossenen Körper kein Rock und keine Bluse richtig sitze. Sie fühlte ihre Hässlichkeit noch gehoben durch die Begleitung Ernestes in ihrem Kapotthut, ihren schwarzen Zwirnhandschuhen, ihrem alten Mantel, der schief von ihrer zu hohen Schulter hing. Waren sie beide nicht ein lächerliches Paar? Lola sträubte sich gegen die Verwechslung mit Erneste, und dabei musste sie gestehen, man könne sie äußerlich ganz gut zur gleichen Klasse rechnen: sie, die nicht von Erneste nur, nein, von allen so weit Getrennte! Begegnete sie Leuten, sah sie entweder scheu weg, oder sie musterte sie frech wie eine für immer Draußenstehende, die sich ihrer Ungezogenheit nie zu schämen haben wird. Dennoch hätte sie bei Tisch, wo Erneste sie mit ihren Nachbarn zu reden nötigte, in den ersten jungen Menschen sich fast verliebt. Ihr Stolz verhinderte es: weil sie sich hässlich wusste, und die Erinnerung, dass kein Geschöpf liebenswert sei, keins sie angehe und jede Gemeinschaft nur wieder Gram bringe. In der Einsamkeit ward ihr freier; sie konnte in ein Buch aufgehen, ihr qualvolles Ich darin aufgehen lassen. Umso schlimmer war’s, wenn die Feinde sie auch hier erreichten. Einmal – sie glaubte an einer Stelle zu sein, wohin nie ein Mensch den Fuß gesetzt habe – erhob sich plötzlich der Lärm zahlreicher Stimmen, die auf sächsisch voneinander Abschied nahmen. Die Gesellschaft verteilte sich auf zwei Wege, die fünfzig Schritte weiter unten wieder zusammenstießen. Bei den unverhofft nochmals Vereinigten ging eine freudige Begrüßung an; und Lola, der das vorkam wie eine ihr zum Hohn aufgeführte Komödie, rang die Hände im Schoß. Darauf blieb es still, bis ein Knacken im Gebüsch und ein kleiner wilder Schrei sie erschreckten. Sie warf einen Stein nach dem Tier. Gleich darauf stürzte sie ins Gras und schluchzte heftig und unstillbar auf ihre erschlafften Arme nieder. Ihre Tränen flossen dem, was sie getan hatte, und allem, was sein musste: flossen ihr selbst.
Wenn es anderen zu heiß war, oder beim Nahen eines Gewitters, stieg Lola in den Wald. Bei sich hatte sie Lamartines Meditationen. »Die Freundschaft verrät dich, das Mitleid lässt dich im Stich, und allein schreitest du den Pfad der Gräber abwärts«, las sie auf dem Weg mit den Bildstöcken. Und trat sie dann am Ende der fahl bläulichen Steige an den Rand der Bergwand und sah hinaus in ein grenzenloses Land, dessen Wellen schwarze Gehölze, grelle Wiesen, rostrote Kornfelder in tiefhangende Wetterwolken hineintrugen – im unheimlichen Flackerlicht solcher Stunde durfte Lola verzweifelt frohlocken: »Ich durcheile mit dem Blick alle Punkte der ungeheuren Weite und sagte: Nirgends erwartet mich Glück.« Mochte doch in jenem getürmten Grau die Sonne für immer untergehen; Lola wusste im Ernst: »Ich wünsche mir nichts von allem, was sie bescheint; vom ungeheuren All verlange ich nichts!«
Aber die Verse selbst, in denen diese äußersten Schmerzen laut wurden, bargen in sich den Balsam dagegen; »Akzente, der Erde unbekannt«, regten sich in ihnen, und sie trugen einen, indes man sich hoffnungslos wähnte, unversehens in gütigere Welten. Nun saß Lola geborgen unter dem Dach des Holzfällerhüttchens aus Reisern und Moos, und beim Geprassel des Regens flog ihre Seele nach einem fernen, sanften und einsamen Gestade. Wie die Wogen sangen! Welche Harfenakkorde die klare, duftlose Luft durchperlten! Lola stieg in eine Barke, und mit ihr einer, der zu ihr sprach: »Sieh mitleidigen Auges auf die gemeine Jugend, die von Schönheit glänzt und sich mit Lust berauscht: Wenn sie ihren Zauberkelch geleert haben wird, was bleibt von ihr? Kaum eine Erinnerung: das Grab, das ihrer wartet, verschlingt sie ganz, ewiges Schweigen folgt auf ihr Lieben; über deinen Staub aber, Lola, werden Jahrhunderte dahingegangen sein, und noch immer lebst du!«
Der Dichter war’s, der dies gesprochen hatte. Lola erwachte; sie kauerte und bohrte die Handknöchel in ihre von Scham und Glück roten Wangen; und sie erbebte von der Ahnung jener liebreichen Ewigkeit, die ihr verheißen war. Lieben und geliebt werden bis zur Unsterblichkeit! War es zu ermessen? Dennoch fühlte sie, ihr sei’s bestimmt; und aufgehoben und erstarkt, entwand endlich ihr sehnsüchtiges Herz sich dem Menschenhass. Lolas Gefühle und die Verse, die sie trugen, hatten einen Gang, der nicht der Gang irdischer Menschen war. Menschen, die einer bestimmten Nation und eines Standes waren, die Dialekt sprachen, Vorurteile hatten, an Erde und Metall klebten: solche Menschen hatten wohl nie in solchen Versen gefühlt. Es mussten andere leben, lustigere, gütigere und reinere, die man lieben konnte. Sie waren auf anderen Sternen, gewiss, es gab überirdische Lebensstufen, und Gott – oh, er war also da! – erlaubte uns, von Stern zu Stern uns zu veredeln! Ihrer hässlichen Hülle ledig, schwebte Lola in Gemeinschaft einer seelenhaften Menschheit durch die Unendlichkeiten der Poesie; und kehrte sie nach dem Gewitter heim, war sie trunken von der wetterleuchtenden Weite, dem Jubel der befreiten Natur, von Menschengüte, Tugend und Alliebe.
Dann sagte Erneste:
»Nein aber, du triefst; du verdirbst noch alle deine Kleider!«
Und Lola musste herabsteigen und sich mit den Wesen behelfen, zu denen eine mürrische Wirklichkeit sie gesellt hatte.
Erneste war vor dem Gewitter ins Zimmer geflüchtet und hatte an ihrem Buch keine Freude gefunden, weil sie immer denken musste, dass sie nun doch allzu wenig Gutes habe von ihrem Liebling, von dieser Lola, die sie, ganz insgeheim, ihr Kind nannte. Dies Berghotel war ein teurer Aufenthalt, und wenn er für Lola ohne Schwierigkeit bezahlt ward, Erneste fiel’s nicht leicht. Sie wohnte sonst den Sommer in einem Dorf nahe ihrer Stadt, mit anderen Lehrerinnen und mit Lola. Um Lola zu erfreuen, hatte sie dies Jahr die Reise gemacht, und auch, weil das Kind groß ward und es nicht mehr lange dauern konnte, bis man es ihr wegnahm. Vorher noch eine Zeit lang es ganz für sich haben, noch einmal so vertraut mit ihm leben wie einst, als es klein war: danach hatte Erneste sich gesehnt. Nun aber saß sie meist allein, immer in der Stube, bei dem ewigen Regen hier im Gebirge, und Lola hatte noch nie daran gedacht, ihr Gesellschaft zu leisten. »So junge Menschen sind zu sehr mit sich beschäftigt und sehen in andere nicht hinein. Dass sie wegläuft, ist kein Mangel an Zartgefühl, bewahre. Warum kann ich ihr nicht sagen, wie gern ich mit ihr beisammen wäre? Es ist meine Schuld.« Dabei errötete Erneste, sogar hier im verschwiegenen Zimmer.
Wie viel verschämtes Leid hatte ihr die Liebe zu diesem Kinde bereitet! Bis in das erste Jahr zurück wusste sie noch alle Strafen, die sie Lola hatte erteilen müssen, so schwer waren sie ihr geworden. Schmerzensworte, zornige Ausrufe der Kleinen, die Lola selbst längst vergessen hatte, fielen Erneste oft wieder ein, und noch immer erschrak sie darüber. War sie nicht zart genug gewesen mit dem einsamen Kinde? Wohl hatte sie es über die empfangenen Strafen zu trösten gesucht, indem sie ihm das Fleisch, das es nicht gern aß, wie einen Kuchen herrichtete; oder dadurch, dass der Spitz Ami, der Lola angeknurrt hatte, vor