Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
der Dame kühl um ihre Hand. Was sagte nun die Dame? Ratlos wandte Lola sich nach Pai um.
»Fräulein Erneste begrüßt dich«, erklärte Pai, »und verspricht dir, sie wolle dich liebhaben und dich alles Gute lehren. Du musst ihr danken.«
»Danke«, sagte Lola, mit Anstrengung.
Darauf begann das Fräulein unter Lauten freudiger Erregung überall in Lolas Gesicht Küsse zu werfen, die hart waren und schmerzten. Lola begriff nicht; sie erschrak, und inzwischen hatte das Fräulein schon wieder eine Menge geredet, und alles klang fragend. Allmählich hörte Lola, dass sie immer dasselbe sagte, und immer langsamer und deutlicher sprach sie es aus. Wieder suchte Lola Hilfe bei Pai, aber Pai hatte sich in einen Stuhl gesetzt und bekümmerte sich nicht um sie. Und das Fräulein drang immer strenger auf sie ein, mit steil aufgerichtetem Zeigefinger. Lola hielt sich nicht länger; sie brach, und sah dem Fräulein dabei immer starr in die Augen, in entsetztes Schluchzen aus. Da geschah etwas sehr Seltsames. Die eifrige, Gehorsam heischende Miene des Fräuleins fiel jäh in sich zusammen und ward ganz unsicher und hilflos. Das Fräulein war auch anfangs nicht groß gewesen; jetzt aber war es nicht mehr viel höher als Lola, und es tastete schüchtern, während es den Kopf zum Bitten schief legte, nach Lolas Hand. Darüber erschrak Lola nochmals, aber nicht für sich selbst. Was hatte das Fräulein? Ein verlegnes Mitleid berührte ihr Herz, und sie lächelte zart. Ein wenig höher noch hob sie des Fräuleins Hand, die um ihre lag, zögernd – und plötzlich legte sie die Lippen darauf. Sogleich aber trennten sie sich, und Lola lief auf Pai zu, fiel ihm um den Hals und rief, um Pai von dem Fräulein und seiner Verwirrung abzulenken: was für ein herrlicher Apfelbaum da zum Fenster hereingreife. Pai hob, da das Fräulein ihm etwas zurief, Lola hoch empor, und sie konnte eine Frucht brechen.
Alle drei gingen nun in den Garten. Lola fühlte sich irgendwie beglückt; und ehe jemand es sich versah, saß sie droben im Apfelbaum. Pai schalt, aber sie hörte, dass es Spaß sei; das Fräulein lachte von Herzen, und aus allen Ecken des Gartens liefen Mädchen herbei, sich die kleine Wilde anzusehen. Sie tanzten um den Baum, schrien und streckten die Hände aus. Pai sagte hinauf, das Fräulein erlaube, dass Lola zur Feier ihrer Ankunft den Mädchen Äpfel pflücke. Lola warf sie ihnen zu; sie kletterte von Ast zu Ast, suchte sich mit ernster Miene eine aus und warf ihr die Frucht in die Schürze. Als sie herunterstieg, umringten die Größeren sie und liebkosten sie. Aber eine Glocke läutete, und alle eilten ins Haus. Pai und Lola folgten dem Fräulein zu einer Laube, wo ein Frühstück bereitstand.
Lola bekam zum Essen ein halbes Gläschen Wein; dann nahm Pai sie auf sein Knie, küsste sie und sagte: »Nun lauf umher.«
Trotzdem behielt er sie im Arm und sah sie an. Sie entschlüpfte.
»Einen Kuss noch, kleine Tochter«, rief Pai ihr nach.
»Gleich!«
Und sie sprang hinter einem Schmetterling her. Ihr war lustig zu Sinn, sie dachte: »Solche großen Klatschrosen! … Ich muss sehen, was dort in der Mauer für ein dunkles, dunkles Loch ist … Pai ist gut, auch das Fräulein ist gut … Eine Eidechse, husch … Ob die Mädchen nicht wiederkommen? … Der schöne Tag!«
»Pai!« jauchzte sie.
»Er kann mich nicht hören, so groß ist der Garten. Wo ist denn die Laube geblieben? Ah, um diese Hecken muss ich herum … Nun aber: Pai!« Und sie lief.
Plötzlich hielt sie an: vor der Laube stand das Fräulein allein.
»Pai?«
Lola kam langsam näher. Ihre Augen durchforschten die Laube, überflogen den Garten und hafteten, verzagend, am Blick des Fräuleins. Was sagte er? Doch nicht das? Er konnte nicht! Lola nahm sich zusammen und fragte:
»Wo ist Pai, Fräulein?«
Das Fräulein sagte etwas, wieder mehrmals dasselbe, aber gar nicht langsam und deutlich wie vorhin, und doch verstand Lola. Sie warf, haltlos jammernd, die Arme in die Höhe.
»Er wollte noch einen Kuss von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch noch den Kuss geben soll!«
Sie taumelte einmal um sich selbst und schlug, unsicheren Laufs, den Weg zum Hause ein. Mitten darauf blieb sie stehen, ließ die Arme fallen, senkte den Kopf, und die rinnenden Tränen wuschen ihr von den Lippen den Kuss, den sie nicht hatte geben dürfen.
III
Lola war allein.
Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so rasch zurück, als flöhe sie.
Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.
»Ami!« rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig erschreckt, und der Hund musste hinaus – wo er winselte.
Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen. Lola glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die Handarbeit, neben der es gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf – es war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge – und wiederholte, auf den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es nicht; dann merkte sie wohl, dass sie es nachsprechen solle, aber sie schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl. Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der davorstand; darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind und zu beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft, zärtlich, zum Zerbrechen fein, und seine großen Augen glitzerten, als seien sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich selbst – und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon längst vorsagte: »Reh«, und weinte, leise und ohne Trotz.
Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts, aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt