Jane Eyre. Eine Autobiografie. Charlotte BronteЧитать онлайн книгу.
oder Neigungen, die sie auch nur im Geringsten aus der Masse der Kinder ihres Alters herausgehoben hätten; allerdings hatte sie auch keine Fehler oder Laster, die besonders schlimm gewesen wären. Sie machte annehmbare Fortschritte und hatte eine lebhafte, wenn auch vielleicht nicht sehr tiefe Zuneigung zu mir gefasst; und durch ihre unbefangene Art, ihr fröhliches Geplapper und ihr Bemühen, es mir recht zu machen, weckte sie auch in mir ein Gefühl der Zuneigung, das so stark war, dass ich mich in ihrer Gesellschaft ebenso wohl fühlte wie sie sich in meiner.
Leute – dies par parenthèse –, die ernsthaft der Überzeugung anhängen, Kinder seien Engel und die mit ihrer Erziehung Beauftragten müssten ihnen abgöttische Verehrung entgegenbringen, werden meine Worte recht kühl und nüchtern finden. Aber ich schreibe nicht, um elterlicher Selbstgefälligkeit zu schmeicheln, Heucheleien zu verbreiten oder irgendwelchem Unsinn Vorschub zu leisten; ich sage nur die Wahrheit. Ich fühlte mich für Adèles Wohlergehen und Vorankommen verantwortlich, und ich mochte das kleine Persönchen wirklich gern, genauso wie ich Mrs. Fairfax für ihre Freundlichkeit dankbar war und in ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, die der stillen Achtung, die sie mir entgegenbrachte, und ihrem zurückhaltenden Wesen und Auftreten entsprach.
Wer will, mag mich tadeln, wenn ich weiter hinzufüge, dass ich zuweilen – wenn ich allein durch den Park spazierte, wenn ich zum Tor hinunterging und auf die Straße hinaussah, oder wenn ich, während Adèle mit ihrem Kindermädchen spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Gelee zubereitete – die drei Treppen hinaufstieg, die Falltür in der Mansarde hochhob und vom Dach aus meinen Blick über die einsamen Felder und Hügel und den in der Ferne verschwimmenden Horizont schweifen ließ – dass ich mir dann ein Sehvermögen wünschte, das jene Grenze überwinden könnte, das es mir gestattete, einen Blick auf die betriebsame Welt, die geschäftigen Städte, die Regionen voller Leben zu werfen, von denen ich zwar gehört, die ich aber noch nie gesehen hatte – dass ich mich nach mehr praktischer Erfahrung sehnte, als ich bisher erworben hatte, nach mehr Kontakt mit meinen Mitmenschen, nach mehr Begegnungen mit vielseitigeren Charakteren, als sie hier für mich erreichbar waren. Ich schätzte die guten Seiten an Mrs. Fairfax und auch an Adèle durchaus, aber ich war überzeugt, dass es noch andere, weniger passive gute Eigenschaften gab, und es verlangte mich danach, das, woran ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.
Wer wird es mir verdenken? Zweifellos viele. Man wird mich unzufrieden und undankbar nennen. Ich war indes machtlos dagegen; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur, und manchmal versetzte sie mich in solche Erregung, dass ich geradezu körperlichen Schmerz empfand. Dann fand ich die einzige Erleichterung darin, den langen Gang im dritten Stock, wo ich mich in der dort herrschenden Stille und Einsamkeit sicher und geborgen fühlte, auf und ab zu gehen und mich den heiteren Traumbildern hinzugeben, die vor meinem geistigen Auge aufstiegen – und es waren viele fesselnde Visionen. Mein Herz hob und senkte sich mit wildem Pochen, und wenn es dabei auch vor Kummer anschwoll, so war es doch mit Leben erfüllt. Vor allem aber fand ich Trost darin, mein inneres Ohr einer unendlichen Geschichte lauschen zu lassen – einer Geschichte, die meiner Phantasie entsprang, sich ständig weiterentwickelte und von all den Ereignissen, dem Leben, dem Feuer und den Gefühlen vorangetrieben wurde, nach denen ich mich sehnte und die ich in meinem damaligen Dasein so schmerzlich vermisste.
Es ist zwecklos zu fordern, der Mensch solle sich mit einem beschaulichen Leben zufriedengeben. Er braucht Betätigung und Abwechslung, und wenn er sie nicht findet, schafft er sie sich selbst. Millionen sind zu einer noch geruhsameren und eintönigeren Existenz verdammt als ich, und Millionen lehnen sich stumm gegen ihr Los auf. Niemand weiß, wie viel Aufruhr und Rebellion – abgesehen von politischer Empörung – in den Menschenmassen gären, die die Erde bevölkern. Frauen gelten im Allgemeinen als sehr ruhig und sanftmütig, aber sie fühlen nicht anders als Männer; sie müssen ihre Begabungen ebenso erproben können wie ihre Brüder, und genau wie diese brauchen sie einen Bereich, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Sie leiden unter allzu starker Einschränkung und erzwungener Tatenlosigkeit nicht weniger als Männer, und es ist engstirnig, wenn ihre privilegierteren Mitmenschen sagen, sie sollten sich aufs Puddingkochen und Strümpfestricken, aufs Klavierspielen und Taschenbesticken beschränken. Es ist gedankenlos, sie zu verurteilen oder sich über sie lustig zu machen, wenn sie bestrebt sind, mehr zu tun oder zu lernen als das, was Tradition und Sitte ihrem Geschlecht zubilligen.
Wenn ich allein dort oben war, hörte ich nicht selten Grace Pooles Lachen – das gleiche schrille Gelächter, das gleiche tiefe, langgezogene Haha, das mich hatte erschauern lassen, als ich es zum ersten Mal vernahm. Auch ihr sonderbares Gemurmel hörte ich wieder, das noch unheimlicher war als ihr Lachen. An manchen Tagen war sie ganz still; an anderen wieder gab sie Laute von sich, die ich mir nicht erklären konnte. Zuweilen sah ich sie auch. Dann kam sie mit einer Schüssel, einem Teller oder einem Tablett in der Hand aus ihrem Zimmer, ging in die Küche hinunter und kehrte bald darauf wieder zurück, meist (verzeih mir, romantischer Leser, wenn ich die nackte Wahrheit berichte!) mit einem Krug dunklem Bier. Ihr Äußeres dämpfte stets die Neugier, die ihre befremdenden Geräusche in mir geweckt hatten: Sie hatte harte Gesichtszüge, sah gesetzt und nüchtern aus, und nichts an ihr vermochte Interesse zu erregen. Ich versuchte einige Male, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schien ein wortkarger Mensch zu sein, und mit einer einsilbigen Antwort erteilte sie allen derartigen Bemühungen meinerseits eine Abfuhr.
Die anderen Mitglieder des Haushalts, also John und seine Frau, das Dienstmädchen Leah und Sophie, das französische Kindermädchen, waren anständige Leute, aber in keinerlei Hinsicht außergewöhnlich. Mit Sophie pflegte ich mich auf Französisch zu unterhalten, und manchmal stellte ich ihr Fragen über ihre Heimat; doch sie hatte weder ein Talent zum Erzählen, noch konnte sie etwas anschaulich schildern, und meist waren ihre Antworten so nichtssagend und konfus, dass sie eher dazu angetan waren, von weiteren Erkundigungen abzuhalten, als dazu zu ermutigen.
Oktober, November und Dezember gingen vorüber. Eines Nachmittags im Januar ersuchte mich Mrs. Fairfax, Adèle vom Unterricht zu befreien, weil sie erkältet sei; und da Adèle die Bitte mit einem Eifer unterstützte, der mich daran erinnerte, wie kostbar mir selbst als Kind ein gelegentlicher freier Nachmittag gewesen war, hielt ich es für richtig, mich in diesem Punkt nachgiebig zu zeigen, und willigte ein. Es war ein schöner, heiterer Tag, aber sehr kalt. Ich hatte den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht und war es leid, noch länger stillzusitzen. Mrs. Fairfax hatte eben einen Brief geschrieben, der zur Post gebracht werden musste. So legte ich Umhang und Haube an und erbot mich, ihn nach Hay zu bringen; die zwei Meilen bis zum Dorf waren gerade die richtige Entfernung für einen angenehmen Spaziergang an einem Winternachmittag. Ich sorgte dafür, dass Adèle behaglich in ihrem kleinen Stuhl vor dem Kamin in Mrs. Fairfax’ Wohnzimmer saß, gab ihr ihre schönste Wachspuppe (die ich für gewöhnlich in Silberpapier eingewickelt in einer Schublade aufbewahrte) und ein Märchenbuch, damit sie etwas Abwechslung in ihren Zeitvertreib bringen konnte, und nachdem ich ihr »Revenez bientôt, ma bonne amie, ma chère Mdelle. Jeanette« mit einem Kuss beantwortet hatte, machte ich mich auf den Weg.
Der Boden war hart gefroren, die Luft unbewegt, der Weg einsam. Ich schritt kräftig aus, bis mir warm wurde, dann spazierte ich langsamer weiter, um das Vergnügen auszukosten und all die Eindrücke in mich aufzunehmen, die Tageszeit und Umgebung mir boten. Es war drei Uhr; die Glocke schlug gerade, als ich am Kirchturm vorüberkam. Der Reiz der Stunde lag in der bereits hereinbrechenden Dämmerung, in der tief stehenden Sonne, die die Landschaft in fahles Licht tauchte. Ich befand mich etwa eine Meile von Thornfield entfernt auf einem schmalen Weg, der im Sommer für seine wilden Rosen, im Herbst für seine Nüsse und Brombeeren berühmt war, und sogar jetzt besaß er noch ein paar korallenrote Schätze in Form von Hagebutten und Mehlbeeren; das Schönste im Winter war indes seine vollkommene Einsamkeit und Stille, die nicht einmal durch das Rauschen von Blättern im Wind gestört wurde. Denn auch wenn sich ein Lüftchen erhob, entstand nicht das geringste Geräusch: Es gab keine Stechpalme, kein Immergrün, die hätten rascheln können, und die kahlen Haselnuss- und Weißdornsträucher standen so reglos wie die verwitterten weißen Steine, mit denen der Pfad in der Mitte gepflastert war. Zu beiden Seiten erstreckten sich weit und breit Felder und Wiesen, auf denen jetzt kein Vieh weidete; und die kleinen braunen Vögel, die sich zuweilen in der Hecke bewegten, sahen aus wie