Jane Eyre. Eine Autobiografie. Charlotte BronteЧитать онлайн книгу.
auf halber Höhe setzte ich mich auf einen Zauntritt, der Zugang zu einem Feld bot. Meinen Umhang eng um mich geschlungen und die Hände im Muff verborgen, spürte ich die Kälte nicht, obgleich es sogar gefror, wie die dünne Eisschicht bewies, die den Pfad dort überzog, wo ein nun wieder erstarrtes Bächlein nach plötzlichem Tauwetter vor ein paar Tagen darüber hinweggeflossen war. Von meinem Platz aus konnte ich nach Thornfield hinuntersehen: Der graue, mit Zinnen bewehrte Bau beherrschte das Tal unter mir; seine Wälder und die dunklen Krähennester erhoben sich nach Westen hin. Ich wartete, bis die Sonne die Wipfel der hohen Bäume erreicht hatte und blutrot und rund hinter ihnen versank. Dann wandte ich den Blick ostwärts.
Über dem Hügel vor mir stand der aufgehende Mond, blass noch wie eine Wolke, doch mit jedem Augenblick leuchtete er heller. Er blickte auf das halb hinter Bäumen verborgene Hay, aus dessen wenigen Schornsteinen blauer Rauch aufstieg. Der Ort war zwar noch eine Meile entfernt, aber in der vollkommenen Stille konnte ich schon deutlich das leise Gemurmel des Lebens in dem kleinen Dorf hören. An mein Ohr drang auch das Rauschen von dahinströmendem Wasser, allerdings vermochte ich nicht zu sagen, aus welchen Tälern und Tiefen es kam, doch gab es um Hay viele Hügel, und gewiss wanden sich von ihren Höhen viele Bäche talwärts. In der Abendstille war das Tosen weit entfernter Wasserläufe ebenso zu vernehmen wie das Gurgeln und Glucksen der Bächlein in unmittelbarer Nähe.
Plötzlich durchbrach ein lautes Geräusch das sanfte Säuseln und Flüstern; es schien weit weg zu sein, war aber ganz deutlich zu hören: ein entschiedenes Trapp-Trapp, ein metallisches Klappern, das das leise Plätschern der Wellen übertönte, so wie auf einem Bild gewaltige Felsklippen oder der knorrige Stamm einer mächtigen Eiche, in dunklen Farben wuchtig dargestellt, die miteinander verschmelzenden zarten Farbtöne der blauen Hügel, des sonnenbeschienenen Horizonts und der weißen Wolken in der luftigen Ferne überdeckten.
Der Lärm kam vom Weg her; es war der Hufschlag eines Pferdes. Noch verbargen es die Windungen des Pfades, doch näherte es sich rasch. Ich hatte eigentlich gerade aufstehen und weitergehen wollen, aber da der Weg schmal war, blieb ich sitzen, um es vorbeizulassen. Damals war ich noch recht jung, und allerlei Hirngespinste, heitere und düstere, spukten in meinem Kopf herum: Erinnerungen an Ammenmärchen und Geistergeschichten mischten sich mit anderem Unsinn. Kamen sie mir nun, da ich kein kleines Mädchen mehr war, in den Sinn, so verlieh ihnen meine heranreifende jugendliche Phantasie eine Kraft und Lebendigkeit, die über die Vorstellungswelt eines Kindes hinausgingen. Während der Hufschlag immer näher kam und ich darauf wartete, das Pferd in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fielen mir ein paar von Bessies Geschichten ein, in denen ein sein Unwesen in Nordengland treibender Geist namens »Gytrash« vorkam, der in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heimsuchte und zuweilen verspäteten Wanderern erschien – geradeso wie mir nun dieses Pferd.
Es war schon ganz nahe, aber noch immer konnte ich es nicht sehen. Da vernahm ich plötzlich außer dem Hufgeklapper ein Rascheln unter der Hecke, und gleich darauf glitt dicht an den Haselstauden ein großer Hund vorüber, der sich mit seinem schwarzweißen Fell deutlich gegen die Sträucher abhob. Er entsprach genau einer der Beschreibungen, die Bessie mir einst vom Gytrash gegeben hatte – ein löwenähnliches Geschöpf mit langhaarigem Fell und riesigem Kopf. Er trottete jedoch ganz ruhig an mir vorbei und blieb nicht einmal stehen, um mich – wie ich es eigentlich erwartet hatte – mit sonderbaren, ganz und gar unhündischen Augen anzustarren. Das Pferd folgte – ein hohes Ross, auf seinem Rücken ein Reiter. Dieser Mann, ein menschliches Wesen, brach den Bann augenblicklich. Noch nie war jemand auf dem Gytrash geritten, er kam immer allein; und zudem war ich überzeugt, dass Gespenster zwar zuweilen in den stummen Körper eines Tieres schlüpfen mochten, aber wohl kaum jemals Menschengestalt annehmen würden. Nein, das war kein Gytrash – nur ein Reisender, der eine Abkürzung nach Millcote nahm. Er ritt an mir vorüber, und ich setzte meinen Weg fort. Nach ein paar Schritten wandte ich mich um; ein Geräusch, als glitte jemand aus, und der Ausruf: »Was zum Teufel ist jetzt los?« hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Pferd und Reiter lagen am Boden; sie waren auf der dünnen Eisschicht ausgeglitten, die den Pfad überzog. Der Hund kam zurückgesprungen, und als er seinen Herrn in dieser misslichen Lage sah und das Pferd schnauben hörte, bellte er, bis die tiefen Laute, die er – seiner Körpergröße entsprechend – von sich gab, von den abendlichen Hügeln widerhallten. Er beschnüffelte das am Boden liegende Knäuel und lief dann zu mir. Das war alles, was er tun konnte, jemand anderes war ja nicht in der Nähe, den er hätte zu Hilfe holen können. Ich kam seiner Aufforderung nach und ging zu dem Fremden hin, der nun versuchte, sich von seinem Ross zu befreien. Seine Bewegungen waren so energisch und kraftvoll, dass er sich meiner Meinung nach nicht ernstlich weh getan haben konnte. Trotzdem fragte ich:
»Haben Sie sich verletzt, Sir?«
Ich glaube, er fluchte, aber ganz sicher bin ich mir dessen nicht; jedenfalls stieß er irgendeine Redensart hervor, die ihn daran hinderte, mir direkt zu antworten.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte ich mich erneut.
»Treten Sie nur zur Seite«, erwiderte er, während er sich zunächst auf die Knie, dann auf die Füße erhob. Ich gehorchte. Daraufhin begann ein Ziehen, Stampfen und Hufgeklapper, begleitet von einem Gebell und Gekläffe, das mich tatsächlich ein paar Meter zur Seite treten ließ; aber ich wollte mich nicht ganz vertreiben lassen, ehe ich nicht gesehen hatte, welchen Ausgang die Sache nahm. Es ging schließlich glücklich ab: Das Pferd war wieder auf den Beinen, und der Hund wurde mit einem »Platz, Pilot!« zur Ruhe gebracht. Nun bückte sich der Reiter und befühlte Fuß und Bein, als wolle er feststellen, ob etwas gebrochen war. Offenbar hatte er Schmerzen, denn er hinkte zu dem Zauntritt hinüber, von dem ich eben erst aufgestanden war, und ließ sich darauf nieder.
Ich wollte mich wohl gern nützlich machen oder wenigstens meine Hilfsbereitschaft zeigen, denn ich näherte mich ihm erneut.
»Wenn Sie verletzt sind und Hilfe brauchen, kann ich jemanden von Thornfield Hall oder aus Hay holen.«
»Danke, es wird schon gehen. Ich habe mir nichts gebrochen, es ist nur eine Verstauchung.« Und wieder erhob er sich und trat mit dem Fuß auf, ein Unterfangen, das ihm jedoch sogleich ein unwillkürliches »Au!« abnötigte.
Ein wenig Tageslicht war noch verblieben, und der Mond schien schon recht hell, so dass ich den Mann ganz gut sehen konnte. Seine Gestalt war in einen Reitmantel mit Pelzkragen und Stahlspangen gehüllt, unter dem Einzelheiten nicht erkennbar waren. Immerhin konnte ich feststellen, dass er mittelgroß und ziemlich breitschultrig war. Er hatte ein finsteres Gesicht mit strengen Zügen und einer nachdenklichen Stirn; aus seinen Augen und den zusammengezogenen Brauen sprachen in jenem Augenblick Zorn und Verärgerung. Er war nicht mehr ganz jung, hatte aber die mittleren Jahre noch nicht erreicht: er mochte etwa fünfunddreißig sein. Ich empfand keine Angst vor ihm und nur wenig Scheu. Wäre er ein hübscher, wie ein Romanheld aussehender, vornehmer junger Mann gewesen, hätte ich es nicht gewagt, mich einfach vor ihn hinzustellen, ihn gegen seinen Willen auszufragen und ihm meine Dienste ungebeten anzutragen. Ich hatte kaum je einen hübschen jungen Mann zu Gesicht bekommen, geschweige denn mit einem gesprochen. Zwar verspürte ich grundsätzlich große Bewunderung und Verehrung für Schönheit, Eleganz, Ritterlichkeit und Charme; hätte ich diese Eigenschaften jedoch in Gestalt eines Mannes verkörpert gefunden, wäre mir wohl instinktiv bewusst gewesen, dass sie in mir auf nichts Verwandtes stießen oder stoßen konnten, und ich hätte sie gemieden, wie man Feuer, Blitze oder alles andere meidet, das zwar hell leuchtet, mit dem eigenen Wesen aber unvereinbar ist.
Selbst wenn dieser Fremde mich angelächelt und mir gut gelaunt geantwortet hätte, als ich mich an ihn wandte, wenn er mein Hilfsangebot heiter und dankend abgelehnt hätte, wäre ich meines Weges gegangen, ohne auch nur das Bedürfnis zu verspüren, weitere Fragen zu stellen. Der finstere Blick, die barsche Art dieses Mannes ließen mich ihm indes völlig unbefangen begegnen. So blieb ich stehen, als er mich mit einer Handbewegung zum Weitergehen aufforderte, und erklärte:
»Ich kann Sie doch unmöglich zu so später Stunde auf diesem einsamen Weg allein lassen, solange ich nicht gesehen habe, dass Sie in der Lage sind, Ihr Pferd zu besteigen.«
Als ich dies sagte, sah er mich an; bis dahin hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt.